Obwohl 120 Anmeldungen vorlagen, blieb der zu erwartende Studenten-Ansturm aus. Ein Glück für diejenigen, die sich dennoch entschlossen, am Seminar „Tentative Experiment to Form a Literary Collective“ teilzunehmen. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass zwei solch hochkarätige Schriftsteller wie Daniel Kehlmann und Adam Thirlwell als Gastdozenten auftreten.
Ein Artikel von Constantin Lieb und Markus Streichardt
Wie angekündigt ging es darum, verschiedene Konzepte und Produktionen künstlerischer Kollektive zu analysieren und für das literarische Feld fruchtbar zu machen. Kehlmann und Thirlwell selbst waren bei ihrem eigenen Versuch eines solchen gescheitert. Ein naheliegender Grund war, dass beide jeweils nur in ihrer Muttersprache (Deutsch respektive Englisch) schreiben konnten. Anstatt gemeinsam an einem Text zu arbeiten, berichteten sie, schrieben sie parallel, wobei ein jeder dem anderen lediglich das Thema vorgab. Gewonnen wurde dadurch nichts und insgesamt erinnerte dieses Experiment stark an eine Übung für Kreatives Schreiben.
Was also ist ein künstlerisches Kollektiv? Eine mögliche Definition wäre: Die wahrhaft aufrichtige d.h. brutal ehrliche Zusammenarbeit, bei der nicht der Einzelne sondern die Gruppe als Autor eines Textes, einer Leitidee, eines Manifests oder Ähnlichem auftritt und die ebenso zwangsläufig jeden Teilnehmer an seine Grenzen stoßen lässt. Gewohnte Sicht- und Arbeitsweisen werden im Laufe des Schaffensprozess transformiert. Idealerweise entsteht am Ende ein Kunstwerk, zu dem der Einzelne alleine nicht in der Lage gewesen wäre.
Im Laufe des Seminars wurden die verschiedensten künstlerischen Gruppierungen und Kollaborationen der europäischen Kulturgeschichte vorgestellt, die mal mehr mal weniger mit dem Kollektivbegriff übereinstimmten. Behandelt wurden u.a. die Schreibtechniken der Surrealisten, die Situationisten und ihre Missachtung der Urheberrechte zum Wohle der Kunst, Max Brods „Bearbeitung“ und Interpretation von Franz Kafkas Nachlass, Charles Baudelaires äußerst freie Gedichtübersetzungen von Edgar Allan Poe und der Dokumentarfilm The Five Obstructions von Lars von Trier und Jørgen Leth.
Eines der bekanntesten und sicherlich auch spannendsten Beispiele in der Literatur ist die Arbeitsbeziehung zwischen Raymond Carver und Gordon Lish, auf die im Seminar immer wieder zurückgekommen wurde. So prägte Carvers Lektor Lish nicht nur den prägnanten und pointierten Stil des Autors, sondern änderte auch inhaltlich und strukturell nicht wenig in dessen Texten. Dementsprechend unterkühlt war auch die Beziehung zwischen beiden. Im New Yorker gibt es die editierte Fassung der Kurzgeschichte Beginners, in der jeder Eingriff des Lektors Schritt für Schritt nachvollzogen werden kann.
Zusätzlich zu den Schwerpunkten der einzelnen Seminarstunden, sprachen Gastredner über ihre eigenen Erfahrungen mit dem Gebiet der kreativen Kollektivität.
Jeffrey Eugenides etwa gab Einblick in seine Arbeitsweise und der Suche nach der geeigneten Stimme einer Geschichte, die für ihn einen zentralen Punkt darstellt. In seinem ersten Roman The Virgin Suicides ist es eine Art „Wir-Erzähler“, der – wenn man es so nennen möchte – in sich ein Kollektiv an Protagonisten trägt.
Thorsten Ahrend, Kehlmanns ehemaliger Lektor und nun Verantwortlicher für das belletristische Programm im Wallstein Verlag, sprach sich dezidiert dafür aus, dass alle Mitarbeiter im Verlag im Dienst des Textes stehen und der Beruf des Lektors eigentlich ein real gewordener Gegenentwurf zum Geniegedanken sei.
Regisseur Wolfgang Becker (Goodbye Lenin!) wiederum erklärte, er könne gar nicht alleine schreiben. Ohne einen zweiten oder dritten Partner würde er auf der Stelle treten und die Entwicklung der Geschichte nicht vorankommen. Deshalb begleitete ihn dann auch sein derzeitiger Co-Autor Thomas Wendrich, mit dem er an der Verfilmung von Kehlmanns Ich und Kaminski arbeitet. Gleichzeitig stellte Becker klar, dass es letztendlich einen Chef geben muss, der die Entscheidung fällt und die Verantwortung trägt.
Genau solch einen (autoritären) Chef gab es in den Projektgruppen nicht. Die Studierenden traten als gleichberechtigte Autoren auf, weshalb jede mögliche Idee, jeder Satz, gar jedes Wort zur Diskussion stand. Die Vorgaben zum Verfassen eines kollektiven Textes waren simpel: Zinik, ein 50ig Jahre alter depressiver und geschiedener Geschäftsmann auf dem Weg nach Shanghai.
Erstaunlich schnell einigte man sich auf die ungefähre Handlung und teilte sie untereinander auf. Die ersten Entwürfe wurden dann besprochen, kritisiert und angepasst. Eine notwendige Regel: Gibt es etwas zu kritisieren, gilt es zugleich einen Gegenvorschlag parat zu haben. Das lief größtenteils äußerst professionell ab und vieles konnte durch die Kritik elaboriert werden. Manchmal stand aber auch Aussage gegen Aussage. Und in dem Fall versagte der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ wie Jürgen Habermas es sich vorstellt. Hätte es keinen Abgabetermin gegeben, würden wahrscheinlich noch heute und bis in aller Ewigkeit die Diskussionen andauern. Kompromisse waren also unausweichlich. Nichtsdestoweniger können sich die Resultate durchaus sehen lassen. Im Nachwort der nun publizierten Buchausgabe The Book of Zinik – A Collective Experiment schreiben dann auch Thirlwell und Kehlmann angesichts ihres eigenen Scheiterns anerkennend: „They had offered us hope.“
The Book of Zinik – A Collective Experiment Edition AVL Berlin, 88 Seiten, € 4,90 – ISBN: 9783-98097532-2
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