Mit 35 Jahren eine neue Sprache lernen, nicht einfach so, sondern schriftreif – geht das? Und über die eigene Familiengeschichte in dieser neuen Sprache schreiben – geht das auch? Über die Möglicheit und Unmöglichkeit dieser Herausforderungen hat Irina mit der aus Rumänien stammenden und in Deutschland längst etablierten Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu gesprochen.
Frau Banciu, Sie sind mit 35 Jahren aus Rumänien nach Deutschland gekommen und haben die deutsche Sprache so gut und so schnell gelernt, dass Sie sich auch hier als Schriftstellerin etablieren konnten. Haben Sie ein besonderes Sprachtalent?
Es gibt eine Konstellation, die mich sprachlich geprägt hat. Meine Vorfahren kamen aus verschiedenen Gegenden, zum Beispiel aus der französischen Schweiz und aus Italien, andere stammen aus der Slowakei, das waren ungarische Juden. Ich bin also mit mehreren Sprachen aufgewachsen, und ich habe die Ohren aufgehalten und viel aufgesaugt von dem, was um mich herum war. Ich komme aus dem sogenannten Drei-Länder-Eck in Rumänien, an der ungarischen und serbischen Grenze. Dort spielt sich sprachlich viel ab. Auch wenn man die Sprachen der Nachbarn nicht spricht, so kann man zumindest in einer davon fluchen.
Sie schreiben heute in mehreren Sprachen. Was reizt Sie daran?
Ich hatte schon immer das Bedürfnis, Worte und Sätze auch aus anderen Sprachen zu verwenden, weil sie mich kulturell geprägt oder weil sie Sehnsüchte in mir geweckt haben. Freiheit zum Beispiel: raus aus dem Käfig der Diktatur! Ich bin bis zu meinem 35. Lebensjahr nie über die Grenze des Landes gekommen, doch die Sprachen haben für mich Türen und Welten geöffnet. Und das war sehr wertvoll in einem Land, in dem man nicht nach außen schauen durfte. Ich habe mir auf meine Weise Freiheit erobert: durchs Schreiben, durch das Lesen, durch Kunst, Bücher und Wissen.
Heute können Sie sich frei in der Welt bewegen. Haben die Sprachen nun immer noch die gleiche Bedeutung für Sie?
Absolut! Die Grenzen sind zwar offen, aber die Nähe zu den Kulturen und Menschen geht ja über Sprache. Wenn man die Sprache des anderen versteht oder Bücher in der Sprache liest, in der sie geschrieben wurden, öffnet sich ein anderes Verständnis. Ich habe sehr viel gelernt, indem ich gelesen habe. Und ich habe mich nicht davon erschrecken lassen, dass ich manche Worte nicht verstanden habe.
Haben Sie über das Lesen auch den Zugang zur deutschen Sprache gefunden?
Ich bin nach Deutschland gekommen, ohne zu wissen, dass ich bleiben werde. Aber in Berlin glaubte ich gefunden zu haben, was ich in Paris suchte. Ich habe nie einen Deutschkurs besucht. Meine Schule war ein Café, in dem ich schrieb und einsog, was die Leute um mich herum sagten. So habe ich Deutsch gelernt. Je mehr ich lese, schreibe und zuhöre, desto reicher wird mein Deutsch auch heute noch. Manchmal merke ich, dass Worte nicht passen, dann spiele ich mit ihnen, bis ich ein Wort finde, das zwar nicht existiert, in der deutschen Sprache aber nötig wäre.
Ich komponiere und brauche die Musik von mehreren Sprachen.
In welcher Sprache fühlen Sie sich heute zuhause?
Wenn ich aufwache, fängt in meinem Kopf dieses Rattern an, und das ist auf Deutsch. Wenn ich lange in England bin, dann passiert es auch auf Englisch. Ich glaube, ich bin sehr stark von der Musikalität einer Sprache beeinflusst. Ich komponiere und brauche die Musik von mehreren Sprachen, und wie in einem musikalischen Stück hast du Geschwindigkeiten, Töne und Melodien. Das geht in einigen Sprachen besser als in anderen, aber die Grundmusik ist auf Deutsch.
Wissen Sie noch, wann Sie Ihren ersten deutschen Text geschrieben haben?
1995 hatte ich einen Text für den damaligen Berliner Radiosender SFB geschrieben, für eine Sendung, die Passagen hieß. Da konnte man literarisch und autobiographisch schreiben. Mein Text war etwa 30 Seiten lang und wurde dann die Basis von Vaterflucht.
In Vaterflucht beschreiben Sie das Schicksal einer jungen Frau, die ihre Kindheit im sozialistischen Rumänien verbringt. Ihre Eltern – beide ranghohe Parteifunktionäre in der kommunistischen Partei – erziehen sie mit fragwürdigen Mitteln zu einem neuen Menschen nach dem Idealbild der Partei. Das Buch weist erstaunlich viele Parallelen zu Ihrem Leben auf. Warum nennen Sie es einen Roman und nicht Biographie oder Memoiren?
Erstens ist es nicht eins zu eins. Natürlich nehme ich mir die künstlerische Freiheit, Dinge zu erweitern, zu betonen oder manche Ereignisse zusammenzuführen. Ich wollte auch meinen Vater nicht bloßstellen. Und das Wort Biographie oder Memoiren hört sich so an, als würde ich denken: Ich bin so wichtig, dass ich jetzt meine Memoiren schreiben muss. Ich wollte etwas schreiben über eine Erfahrung, die nicht nur meine war, die repräsentativ war für andere und die von Bedeutung sein konnte für Menschen, die etwas über ein System, über eine Zeit, über eine Art Erziehung erfahren möchten.
War es ein emotionaler Prozess?
Vaterflucht und Das Lied der traurigen Mutter habe ich unter Tränen geschrieben. Es hört sich melodramatisch an, aber es war ein schmerzhafter Prozess. Ich habe Angst vor gewissen Dingen und trotzdem das Bedürfnis, sie zu machen und so ist es auch mit meinen Büchern. Es tut weh, und trotzdem will ich sie schreiben. Jedes Mal habe ich das Gefühl, dass ich gewachsen bin, dass ich etwas erklommen habe wie einen Berg. Es ist ein therapeutischer Akt.
Stand für Sie das Therapeutische im Vordergrund, oder wollten Sie auch anderen von Ihrer Geschichte, Ihrer Zeit in Rumänien erzählen?
Es ist beides. Ich kann mir mein Leben nicht vorstellen, ohne diese Art des Mitteilens von dem, was ich erlebe, empfinde und entdecke. Ich habe das Bedürfnis, dem, was ich einfange aus dem Leben, eine Form zu geben, eine Sprache, eine Musik. Weil das so schön ist, oder so dramatisch, möchte ich es den anderen zeigen.
Diese Zeit des Umbruchs, die wir heute erleben, können wir nicht verstehen, wenn wir nicht zurückblicken und den Kommunismus begreifen.
Sind Ihre Bücher auch ein Anstoß zur Aufarbeitung der kommunistischen Zeit?
Ich betrachte meine Bücher als ein Zeugnis dieser Zeit und als eine Hilfe, diese Zeit zu verstehen. Es ist wichtig, sie zu verstehen, denn was heute passiert – diese Zeit des Umbruchs– können wir nicht verstehen, wenn wir nicht zurückblicken und den Kommunismus begreifen. Es war eine schreckliche Zeit mit Ungerechtigkeit und Diktatur, aber es war auch eine Zeit, die etwas wollte. Und dass es schief gegangen ist, dass es missbraucht wurde, stimmt ja, aber trotzdem kann man aus dieser Zeit etwas lernen. und man muss auch etwas daraus lernen.
Sehen das die Menschen in Rumänien ähnlich?
Ich habe junge Leute in Rumänien kennengelernt, die Interesse daran haben. Die wissen nichts über diese Zeit. Für andere ist es wie ein Angriff. Wenn ein rumänisches Publikum zu meinen Lesungen kommt, sagen sie: „Wie konnte Ihr Vater, ein intelligenter Mann, an den Kommunismus glauben? Wir haben doch immer gewusst, dass das alles eine Lüge ist und haben nur so getan als ob.“ Und dann frage ich sie: „Was ist ehrenhafter, permanent zu lügen, doppelgleisig zu leben und sich opportunistisch zu verhalten, oder an etwas zu glauben und sich zu irren? Damit habe ich mir natürlich keine Freunde gemacht.
Wie ist Ihr heutiges Verhältnis zu Rumänien?
Durch die Bücher habe ich es bereinigt. Rumänien ist ein sehr schönes Land, aber ich möchte nicht dort leben. Ich habe keine Sehnsucht danach. Vielleicht ist es auch eine Abwehr, weil wir mit dem Patriotismus infiziert worden waren, mit der Liebe zum Vaterland.
Gibt es für Sie so etwas wie Heimat?
Ich weiß nicht viel mit diesem Wort anzufangen. Ich denke eher an ein Zuhause. Und zuhause bin ich in Berlin. Rumänien ist das Land, in dem ich geboren bin. Ich kenne die Geschichte, das gehört zu mir, das möchte ich nicht bestreiten. Es ist wie die Sache mit den Wurzeln. Die Leute haben immer gesagt: Du verlierst deine Wurzeln. Doch ich dachte: Ich nehme meine Wurzeln mit. Ich gehe irgendwohin, stecke sie in die Erde, sie nehmen hier etwas auf, dann gehe ich weiter, und sie nehmen dort etwas auf, und immer so weiter.
Carmen-Francesca Banciu lebt und arbeitet heute in Berlin. Ihre Werke bewegen sich auf wunderbare Weise zwischen Poesie und Prosa. Ein besonders gutes Beispiel dafür ist der 2018 bei PalmArtPress erschienene Roman „Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten!“
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