In dieser Kurzgeschichte verbringt die Erzählerin einen Sommer in einem in den Rocky Mountains gelegenen Dorf in Colorado, USA. Sie beschreibt ihre Zeit mit dem siebenjährigen Jungen Buck, der mit einer unerschütterlichen Neugierde auf das einsame Leben in den Bergen blickt.
Buck sitzt auf dem Plattenweg vor dem Haus. Ein Knie hat er angewinkelt, das andere Bein quer über dem warmen Stein.
„Wusstest du“, sagt er, „dass die kleinen Ameisen immer rot sind? Hier, ich zeig’s dir.“
Suchend blickt er sich um. Auf dem Boden sind genug der kleinen Tierchen unterwegs, eifrig, flink, immer beschäftigt. Das Schwierige ist, sie zu fangen. Mit Daumen und Zeigefinger pickt er nach einer kleinen Ameise.
„Ouch, sie hat mich erwischt!“, flucht Buck, dann blickt er zu mir hoch und ein Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit. Wenn etwas schiefgeht, ist es für den Siebenjährigen keine Entmutigung. Es ist, als ob das Leben mit all seinen Arten, seine Macht auszuspielen, ihn fasziniert. Die Tiere und die Natur beeindrucken ihn. Wie Dinge zusammenhängen, funktionieren. Er kann mir stundenlang von Ameisen und Stechmücken erzählen. Dann sitzt er da, auf dem Asphalt, im Gras oder auf dem Trampolin, und verfällt in eine kontemplative Stimmung. Der Tag rinnt vorüber, ohne dass wir es merken. Die Wolken ziehen schnell, wie immer in Colorado, die Sonne wandert gen Westen. Hören tun wir nichts, außer dem Zirpen der Grillen, ab und zu einem Truck, der in den Feldweg einbiegt und Sand aufwirbelt. Es ist eine Gratwanderung zwischen Ferien und Melancholie, zwischen heiler Welt und großer Einsamkeit, die heranrollt wie eine mächtige Gewitterwolke.
Es ist eine Gratwanderung zwischen Ferien und Melancholie, zwischen heiler Welt und großer Einsamkeit, die heranrollt wie eine mächtige Gewitterwolke.
„Stechmücken kann man ihren Stachel rausziehen“, erklärt er jetzt. Eine landet auf seiner Wade, er schlägt zu. Ein riesiger Blutfleck. Er schaut mich mit großen Augen und geöffnetem Mund an. Auch dieses Naturschauspiel gibt ihm eine Glückseligkeit, deren Ausmaß nur er allein kennt.
Die Mittagssonne brennt auf das schwarze Trampolin, an unseren Fußsohlen. Immer bin ich es, die zuerst aufhört zu springen, sich fallen lässt, tot spielt, nach Luft schnappt. Die Bergluft hat es in sich. Aber man schwitzt anders hier in Colorado, zum Glück, es ist eine trockene Hitze, die erträglicher ist. Das T-Shirt klebt nicht nach drei Schritten schon am Rücken, sondern erst nach fünfzig Sprüngen, und nach ein paar Minuten Durchschnaufen ist der Schweiß wieder getrocknet. Doch Buck gönnt mir keine Pause. Wenn ich ihn anschaue, weiß ich sofort, wie er aufgelegt ist. Er zeigt mir seine riesengroße Zahnlücke – gleich mehrere Schneidezähne fehlen oben – dazu ein Giggeln, unermüdlich. Er springt neben meinen Kopf, sodass ich hochgewirbelt werde, nach links und rechts schaukle, wie aus Gummi. Er kann sich gar nicht beruhigen, immer wieder hüpft er um mich herum, lacht und lacht, bis die Sonne meine Haut verbrennt.
Die Tage fließen ineinander. Ich kann sie nicht mehr unterscheiden, ergebe mich den anderen Gesetzen, die die Zeit hier walten lässt. Sie vergeht hier nicht, zumindest im Sommer, zumindest während ich da bin. Popeye, den Hund, findet man immer schlafend. Auf dem warmen Stein, vor seiner Hütte, unterm Trampolin im Schatten. Manchmal schaut er durch die Moskito-Tür ins Wohnzimmer, mit suchenden Augen und leicht wackelndem Schwanz. Ich rede dann mit ihm, und sein Wedeln verstärkt sich, obwohl er mich nicht ausmachen kann im Dunkeln. Alles sieht dunkel aus, wenn man von der Sonne aus darauf schaut. Nachts jault er bitterlich, ich glaube, auch ihn hat die Einsamkeit erwischt. Es gibt viele Hunde hier, aber nur einer ist sein Freund. Die anderen bellt er an, aber nicht nur die Hunde, auch die Autos, oder die Nacht. Wer weiß, vielleicht bellt er den Mond an und wundert sich über dieses große, runde, helle Etwas, das für ihn keinerlei Funktion hat. Hat es für uns Menschen eine Funktion?
Alles sieht dunkel aus, wenn man von der Sonne aus darauf schaut.
Wir gehen auf einen Jahrmarkt im Dorf. Buck und ich fahren zusammen Riesenrad. Etwas skeptisch schaut er über den Rand der Gondel. „Davon wird mir ein bisschen schwindelig“, sagt er. Ich schieße ein Foto von ihm, er lächelt in die Kamera. Später fragt er mich: „Als wir im Riesenrad waren, warum hast du da ein Foto von mir gemacht?“ „Einfach so“, sage ich.
Er gewinnt einen Goldfisch und ist irre stolz. Seine Mutter sagt, dass der Fisch nicht lange leben wird. Zuhause lassen wir ihn in einer Vase schwimmen. Am nächsten Morgen treibt er reglos im Wasser. „Schau mal, er bewegt sich nicht mehr!“, ruft Buck besorgt. Ich sehe den Fisch an und bin sicher, dass er tot ist. „Vielleicht schläft er“, sage ich.
Er steht draußen vor meinem halb geöffneten Fenster, während ich noch im Bett liege. Er schiebt sich herum. Ich fühle mich gleichzeitig voller Liebe und unfähig, zu lieben. Ich bin genervt von ihm, will meine Ruhe haben, aber ich fühle auch Mitleid. Wenn ich mit ihm schimpfe, zieht er den Kopf ein, lässt ihn geradezu hängen. Dann zieht sich auch mein Herz zusammen. Er ist nur ein Junge auf der Suche nach einem Spielpartner. Ich überschätze seine Art zu denken, oder eher, ich schätze sie falsch ein. Es ist schwer, sich in ein Kind hineinzuversetzen. Er will nur das Jetzt füllen. Das Morgen bedeutet ihm nichts, außer die Schule fängt an, oder der Jahrmarkt. Er liebt den Jahrmarkt. „Darf ich von deinem Müsli essen?“, fragt er mich jetzt. Ich möchte weinen, so unschuldig ist seine Frage.
In der Kirche spielen wir Tic Tac Toe, während er Fruit Loops aus einem Plastikbeutel fischt und sie sich in den Mund schiebt. Er kaut mit offenem Mund und denkt angestrengt über seinen nächsten Zug nach. Dass wir jede Runde unentschieden spielen, stört ihn nicht. Er rutscht auf der Bank herum. Lässt einen Fruit Loop fallen und bückt sich nach ihm, nachdem er mich verschwörerisch angeschaut hat. Er ist ein Rabauke. Dann klappt er seinen Zeichenblock auf und beginnt, die bunten Wachsmalstifte auf das Papier zu drücken. Ein Schneemann. „Das ist Olaf“, sagt er, und schreibt „Olaf“ darüber, in blau. Dann greift er wieder in seinen Snackbeutel.
Abends könnte man meinen, im Haus spukt es. Offene Fenster, durch die der Nachtwind bläst, Gardinen, die umherflattern. Überall knarzt und knackt es. Und draußen die Glühbirne, die manchmal angeht, wenn der Hund vorbeiläuft, aber manchmal auch, wenn er nirgends zu sehen ist. Wenn ich den Fernseher anmache, habe ich das Gefühl, ich bin für alle sichtbar. Ein erleuchtetes Haus in der Dunkelheit, wer würde da nicht hineinschauen? Aber wer ist da überhaupt? Der Wind pfeift eine Melodie, die vielleicht der Hund versteht. Ich ziehe den Vorhang im Bad zu, der aus einem quer aufgehängten Handtuch besteht.
Der Wind pfeift eine Melodie, die vielleicht der Hund versteht.
Am Vorabend meiner Abreise holt Buck sich einige Decken. Im Kinderzimmer stehen seit heute ein Tisch und zwei Bänke, die in der Küche keinen Platz mehr haben und bald verschenkt werden sollen. Er ordnet die Decken über den Möbeln an und baut eine riesige Höhle. „Machst du ein Foto von mir und meiner Höhle?“, fragt er mich. Danach tanzen wir zu Popmusik durchs Zimmer, ich wackle albern mit dem Hintern und er rollt sich auf seinem Bett vor Lachen. „Mach das nochmal! Nochmal, bitte!“, schreit er vergnügt, und da ist wieder sein Giggeln. Dann steigt er in einen Hawaii-Rock aus grünem Plastik und zieht mich, eine Polaroidkamera in der Hand, nach draußen. Die Sonne geht gerade unter. Umständlich erklärt er mir, wo man das Papier einlegt. Er macht Fotos von der orangenen Sonne und den Stromleitungen, die wie dünne Hängematten davor baumeln. Er zoomt viel zu sehr heran, bald ist das ganze Bild von Sonne erfüllt, ohne Kontrast, ohne Hintergrund. Ich mache ein Foto, wie er im Hawaii-Rock vorm Sonnenuntergang steht. Ein breites Grinsen. „Behalt du das Foto“, sagt er und drückt es mir in die Hand.
Am Morgen meiner Abreise fährt seine Mutter mich zum Bus, er sitzt schlafend hinten im Auto, eingewickelt in eine Decke. Er hat seinen blauen Plüsch-Schlafanzug an, bei dem sogar die Füße mit angenäht sind. Es wird gerade erst hell. Ich öffne seine Autotür und umarme ihn, er ist so müde, dass er mich kaum wahrnimmt. Ich frage mich, ob er sich später wundern wird, wo ich bin. Die frische Morgenluft trägt eine unmittelbare Aufbruchstimmung in sich, irgendwie ist es immer früh und kalt, wenn man verreist.
Als der Bus losfährt und ich mich fortbewege, vom Auto, von der Stadt, und schließlich auch von den Bergen, muss ich an den Abend des Jahrmarktes denken. Wir sitzen alle draußen, in Campingstühlen, und schauen zum Sternenhimmel hoch. Wir warten auf das Feuerwerk. Es ist lau, eine Augustnacht. Buck kommt zu mir und setzt sich auf meinen Schoß, mit sich schleift er eine Decke, die dann unwillkürlich auch mich wärmt. „Siehst du den ganz hellen Stern da oben?“, fragt er mich. „Das – das ist die Sonne.“ Ich lache und schüttle den Kopf. „Nein, nachts sehen wir die Sonne nicht.“ Ich frage mich, warum ich ihn korrigiert habe. Ist das wichtig? Warum sollte ein kleiner Junge nicht glauben dürfen, dass zwischen der Dunkelheit und dem Flüstern der Berge die Sonne scheint? Es ist unmöglich, wie ein Kind zu denken. Jetzt wünschte ich, auch ich könnte alles Wissen zurückdrehen und am Nachthimmel die Sonne sehen. Meine Augen folgen den vorbeiziehenden Bergen und ich sehe sein grinsendes Gesicht. Er wird es überstehen, der Kleine, auch wenn die Sonne nur tagsüber scheint. Sie bedeutet ihm nichts.
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