»Alzpoetry« Gegen die Tintenkleckse im Gedächtnis

Alzpoetry ist ein Wort, das nicht im Duden steht, das noch niemand bei wikipedia definiert hat, das vergleichsweise wenig Treffer bei google ausspuckt. Zusammengesetzt aus „Alzheimer“ und „Poetry“ steht ein großartiges Projekt hinter diesem Begriff. Litaffin sprach mit Lars Ruppel über die Umsetzung des Projektes in Deutschland.

Lars Ruppel steht in der Mitte eines Stuhlkreises und trägt ein Gedicht vor. Das macht er oft. Normalerweise steht er dabei auf einer Bühne. Dann ist er Poetry Slammer. Dann ist sein Publikum jung und besteht zum größten Teil aus Studenten. Dieses Mal nicht. Dieses Mal dichtet Lars zusammen mit den Alzheimer-Patienten eines Seniorenheimes. Lars Ruppel ist der Leiter des Deutschen Alzheimer Poesie Projektes „Weckworte“.

Vom Poetry Slam zur Alzpoetry

„The Alzheimer‘s Poetry Project“ kommt aus den USA. Gründer ist Gary Glazner. Er arbeitete in den 90er Jahren in einem New Yorker Altenheim. Dabei stellte er fest, wie positiv demenzkranke Menschen auf Gedichte reagieren, besonders, wenn es sich um altbekannte Kindergedichte handelt. Alzheimer zerstört das Kurzzeitgedächtnis. Menschen in späten Stadien von Demenz können sich jedoch oft noch gut an Worte und Verse erinnern, die sie in ihrer Kindheit gelernt haben. Das gemeinsame Aufsagen dieser Gedichte, der bekannte Klang und der Rythmus aktivieren Erinnerungen. Selbst Demenzkranke, die sonst nur teilnahmslos da sitzen, öffnen sich. Es wird gelacht und selbst gedichtet. Worte zeigen Wirkung, eine sehr positive Wirkung.

Gary Glazner ist Schriftsteller, Dichter und als Slampoet ein Künstler der Spoken Word Bewegung. Alzpoetry ist aus dem Poetry Slam hervorgegangen. Neben Gary Glazner sind es zahlreiche Slammer, die das Projekt seit 2004 erfolgreich in Seniorentagesstätten in den USA durchführen.

Auch in Deutschland übernahm ein Poetry Slammer die Schirmherrschaft über das Projekt. Im Jahr 2009 organisierte Lars Ruppel in seiner Heimatstadt Marburg die hessischen Poetry Slam Meisterschaften. Er erhielt dafür finanzielle Unterstützung vom hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst. „Im Rahmen dieses Programms konnte ich Gary Glazner nach Deutschland einladen“, erzählt er. Den Tipp bekam er von Dr. Petra Anders, Deutschdidaktikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen. Sie veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu Poetry Slam und lernte Glazner und das Alzpoetry Projekt 2007 in New York kennen.

Weckworte in Deutschland

Der Workshop, den Glazner in Deutschland gab, hinterließ Eindruck. Lars Ruppel, der vor dieser Begegnung keinerlei Erfahrungen mit Demenzkranken hatte, begann seine Arbeit am Deutschen Alzheimer Poesie Projekt „Weckworte“. Als jahrelanger Workshopleiter zur Leseförderung von Schülern verknüft er seine Arbeit an Schulen mit der in Seniorenheimen. Es enstand ein generationsübergreifendes Projekt mit Jugendlichen und Demenzkranken.

„Die Arbeit mit Menschen mit Demenz ist für unsere Schüler ein ganz besonderes Erlebnis. Es vermittelt nicht nur Verantwortungebewusstsein und Respekt für ältere Generationen, es zeigt ihnen auch, dass sie anderen Menschen helfen können. Dabei entdecken sie die Möglichkeiten ihrer eigenen Stimme und die Kraft der Poesie“, so Lars. „Gleichzeitig bereichert die Energie der Schüler den Alltag der Menschen in Pflegeheimen. Sie schaffen eine Dynamik im Raum, die ein professioneller Poet gar nicht erreichen kann.“

Die Kraft der Poesie

Weltweit leiden mehr als 30 Millionen Menschen unter Alzheimer. Es gibt kein Gegenmittel. Die Krankheit ist oft eine lange Treppe hinunter in die Finsternis. Alzpoetry ist eine kulturelle Bereicherung in der Krankenpflege. Poesie kann in das tägliche Leben integriert werden. Sie ist ein Hilfsmittel, das stimuliert und fördert. „Wir setzen keine Grenzen in unserem Glauben an die kreativen Möglichkeiten von Menschen mit Gedächtnisstörungen“ heißt es im Konzept des Projektes.

Während einer etwa einstündigen Session sind 8-10 demente Menschen, deren Angehörige und/oder Pfleger anwesend. Lars Ruppel und seine Schüler tragen Gedichte vor. Heinz Erhardt, Ringelnatz, Morgenstern und Hüsch sind besonders gut geeignet. „Sie haben sehr humorvolle Geschichten geschrieben. Die Pointen sind leicht und die Bilder schön. Das Reimschema ist nicht zu schwer und lässt sich leicht vorlesen“, erzählt Lars. „Ein „Weckworte“-Gedicht muss unterhalten. Zu ernste Gedichte können die Menschen traurig stimmen. Zwar wollen wir etwas in den Menschen bewegen und Emotionen hervorrufen, allerdings muss der Vortragende sensibel und sich der Wirkung des Gedichtes bewusst sein. Rilkes Herbsttag weckt Gefühle, mit denen wir die Menschen nicht allein lassen dürfen. Hingegen stimmt Mondnacht von Eichendorff die Menschen melancholisch, aber nicht traurig. Dieses Gefühl der Melancholie gilt es aufzufangen und in ein positives Gefühl von Freude an der Erinnerung umzuwandeln.“ Darüberhinaus erklärt Lars, dass ein Alzpoetry-Gedicht im besten Fall rhytmisch sein sollte. So können sich die Zuhörenden dazu bewegen. „Der Bekanntheitsgrad der Gedichte ist wichtig, damit sie wiedererkannt werden können.“ Der Vortrag muss lebendig sein. Der Gruppenleiter trägt eine Zeile vor, die die Gruppe wiederholt. Am Ende der Session wird ein eigenes Gedicht kreiert. Die Teilnehmer beantworten Fragen wie: „Was war das Schönste in ihrem Leben?“. Die Antworten werden notiert und zu einem Gruppengedicht zusammengefügt.

In den USA ist mit Sparking Memories bereits eine Anthologie zum Alzheimer’s Poetry Project veröffentlicht worden. Im nächsten Jahr soll ein deutsches Buch erscheinen, das eine Auswahl geeigneter Gedichte für die Arbeit mit demenzkranken Menschen enthält.

Wenn Lars Ruppel und seine Schüler die Pflegeheime verlassen, haben viele Demenzkranke sie schon wieder vergessen. Alzpoetry kann bei einer regelmäßigen Forführung der Sessions als Therapie genutzt werden, vielmehr geht es jedoch um den Moment. Die Teilnehmer haben eine gute Zeit, öffnen sich und interagieren. Alzpoetry setzt Erinnerungsprozesse in Gang, führt zu Erfolgserlebnissen und hilft Angehörigen sowie Pflegern einen Zugang zu den Menschen zu finden, die sich in ihre Krankheit zurückgezogen haben. Die Poesie weckt die Menschen für einen Moment aus ihrer Demenz, führt zu klaren Augenblicken und zeigt wie Worte wirken.

Foto Lars Ruppel: (c) Insa Kohler

 

3 Kommentare zu „»Alzpoetry« Gegen die Tintenkleckse im Gedächtnis“

  1. weckworte!
    super-bezeichnung!

    ich bin sehr froh, diesen artikel gefunden zu haben. ich beschäftige mich seit einiger zeit schreibenderweise mit dem thema demenz und habe nun auch begonnen, an einer serie „dem-poems“ zu arbeiten.
    ich möchte gedichte für demenzkranke schreiben.
    habe auch bereits ein angebot, im frühsommer in einem heim zu lesen.

    und bisher nicht wirklich etwas gefunden, was sich mit ähnlichem auseinandersetzt.

    die anregungen hier sind für mich sehr wertvoll!

    ich bin es wohl ein wenig von der anderen seite angegangen, aber „weckworte“ habe ich im prinzip auch in verwendung.
    auch ich denke, man darf nur wenige worte verwenden, bekannte begriffe! wiederholungen sind wichtig. um diesen menschen gelegenheit zu geben, einen begriff, der sie „weckt“, auch einzusortieren.

    ich achte nicht so sehr auf den reim, aber auf rhythmus und klang. und ich spreche diese texte deshalb auch immer selbst, um dann hören zu können, wie das klingt.

    es ist eine spannende aufgabe und ich würde mich freuen, wenn ich hier vielleicht kontakte knüpfen könnte.

  2. Vielen Dank!

    Ich freue mich sehr, dass der Artikel Anklang findet und inspiriert. Ich finde das Thema auch sehr spannend und hatte gehofft mit diesem Artikel das Projekt ein bisschen unterstützen zu können.

    Allerdings bin ich in diesem Fall nur das Sprachrohr und nicht selbst im Projekt involviert. Aber das Team hinter dem deutschen Projekt „Weckworte“ lässt sich hier finden: http://www.alzpoetry.de/?page_id=9 und hilft bestimmt gerne weiter, gibt Tipps und beantwortet Fragen.

  3. danke schön!
    ich werde mich dort weiter informieren.

    ich bin sehr froh, endlich wenigstens einmal irgendetwas in dieser richtung gefunden zu haben!

    herzlichen gruß
    evelyne weissenbach

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen