Die Leipziger Buchmesse entführt uns dieses Jahr in den hohen Norden, in das Land der Fjorde und Wasserfälle, dem Zuhause von Elchen und Trollen: Norwegen. Literarisch ist Norwegen schon lange nicht mehr nur für seine spannenden Krimis bekannt, die Literatur aus dem diesjährigen Gastland zeigt sich vielfältig, radikal und experimentierfreudig. Anlässlich der Buchmesse hat sich die Litaffin-Redaktion auf die Suche nach interessanten aktuellen Autor*innen aus Norwegen gemacht.
Jenny Hval: „Perlenbrauerei“
Von Mira Nagel

„There, not there, there, not there, flüstere ich an die Scheibe und trommle mit den Fingern im Takt der Worte gegen das Glas, dunk, du-dunk, als ob ich einen neuen Herzrhythmus für meine neue Heimat schaffe.“
Jo, Anfang zwanzig und Biologiestudentin, zieht für ein Auslandssemester nach „Aybourne“. Ein alles umfassendes Gefühl der Verlorenheit lässt sie durch die ersten Tage in der fremden Stadt treiben – bis sie Anschluss bei der etwas älteren Carral findet, die sie bei sich aufnimmt. Das alte Brauereigebäude, das sie gemeinsam bewohnen, wird dabei zum Schauplatz einer zarten Coming-of Age-Geschichte, in der für Jo die Grenzen zwischen Traum und Realität zusehends zu verschwimmen scheinen: Nicht nur wird es für sie zunehmend schwieriger, zwischen Carral und sich zu unterschieden, auch die Grenzen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Organismen greifen, wuchern, fließen ineinander: Pilze, die aus den Ritzen der Brauereiwände sprießen, verwesende Äpfel, nicht zuletzt die knackenden Wände der maroden Brauerei scheinen ein Eigenleben zu entwickeln. Die in ihrer Sinnlichkeit sehr eindrücklich erzählten Bilder, Gerüche, Geräusche greifen dabei traumgleich ineinander und verstärken sich zu einer beinahe surrealistisch anmutenden Erzählung, in der Fragen von Begehren, Verletzlichkeit, von Natur und Menschsein leise wie eindringlich verhandelt werden.
Das Debüt der norwegischen Schriftstellerin Jenny Hval – die vielen vor allem auch als Musikerin und Performance-Künstlerin bekannt sein dürfte – erschien 2022 in einer Übersetzung von Rahel Schöppenthau und Ana Schiemangk im März Verlag.
Jenny Hval: Perlenbrauerei (aus dem Norwegischen von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk), erschienen 2022 beim März Verlag, 168 Seiten.
Victoria Kielland: „Meine Männer“
Von Hannah-Lou Multhaup
Victoria Kiellands zweiter Roman gewährt einen tiefen Einblick in den Kopf einer Serienmörderin. Im Mittelpunkt steht eine der grausamsten und zugleich rätselhaftesten Figuren des True-Crime-Genres: Belle Gunness, geborene Brynhild.
Meine Männer beginnt 1876 im ländlichen Norwegen mit der unglücklichen Liebe des siebzehnjährigen Dienstmädchens Brynhild zum Hoferben. Das „Gesicht voran ins Kissen gedrückt“, schwer atmend, „zwischen Schweiß und Traum“ lernen wir die Protagonistin auf den ersten Seiten kennen, die einen ersten Vorgeschmack auf die intensive und körperliche Lektüre geben.

Allein durch die extreme Wahrnehmung der Protagonistin von Gerüchen, Bewegungen und ihren Empfindungen wird auf den ersten Seiten ihre kurze Affäre mit dem Hoferben beschrieben, die katastrophale Folgen für sie hat. Als Brynhild schwanger wird, lässt ihr Geliebter sie im Wald misshandelt zurück. Sie verliert ihr Kind. Von diesem Moment an wird Brynhilds Welt „durchlässig“ und sie bekommt den „Geschmack von Erde“ nicht aus ihrem Mund. Ausgehend von diesem traumatischen Ereignis in Brynhilds Kindheit entfaltet Kielland die Geschichte Belle Gunness (wie sie sich später nennt), von der Emigration in die USA, ihrer ersten und zweiten Ehe bis hin zum seriellen Morden von Männern und ihrem nie aufgeklärten Verschwinden.
Doch Meine Männer ist kein klassischer True-Crime-Roman. Was Kiellands Erzählung so besonders macht, ist die gnadenlose Innenschau der Protagonistin. Kiellands Interesse gilt weniger den Morden, vielmehr der Person Belle Gunness. Statt grausamer Tatbeschreibungen schildert die Autorin Belles intensive Gefühle von Wut, Scham, Lust und Einsamkeit. Die eigentlichen Tötungsakte werden hingegen nur angedeutet: Der erste Ehemann liegt plötzlich tot im Garten, der zweite fällt unerwartet dem Fleischwolf zum Opfer. Kielland setzt auf eine unzuverlässige Erzählerin, die zunehmend Erinnerung und Lüge vermischt – eine raffinierte Erzählstrategie, die den historischen Unklarheiten um Belle Gunness Rechnung trägt.
Von der ersten Seite an zieht der Roman die Leser*in in den zerstörerischen Gedankenstrom seiner Protagonistin, der sich in einer eindringlichen, drängenden und körperlichen Sprache entfaltet. Der Rhythmus von Kiellands Prosa ist eine ihrer größten Stärken. Ganz wunderbar ist es Elke Ranzinger gelungen, Kiellands anspruchsvollen Stil in die deutsche Sprache zu übertragen, wofür die Übersetzerin 2024 völlig zurecht mit einer Nominierung für den Internationalen Literaturpreis gewürdigt wurde.
Wer einen True-Crime-Thriller erwartet, wird möglicherweise enttäuscht. Zwar basiert die Geschichte auf einer realen Figur, doch ihre historische Authentizität ist zweitrangig, darauf verweist auch die von der Autorin gewählte Beschreibung ihres Textes als „eine literarische Fantasie, frei inspiriert von tatsächlichen Geschehnissen“. Doch gerade diese kreative und unkonventionelle Erzählweise macht Meine Männer zu einem außergewöhnlichen literarischen Werk. Es ist keine leichte Lektüre, doch wer sich darauf einlässt, wird bis zur letzten Seite in den Bann gezogen. Mit Victoria Kielland hat Norwegen eine bemerkenswerte literarische Stimme gewonnen, deren zukünftige Werke mit Spannung zu erwarten sind.
Victoria Kielland: Meine Männer (aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger), erschienen 2023 beim Klett-Cotta Verlag, 192 Seiten.
Vigdis Hjorth: „Wiederholung“
Von Julie Wolz

Vigdis Hjorth, 1959 in Oslo geboren, ist längst eine feste Größe der norwegischen Gegenwartsliteratur. In ihrem neuen Roman Wiederholung, für den sie 2024 mit dem norwegischen Kritikerprisen ausgezeichnet wurde, rückt sie einmal mehr die inneren Mechanismen familiärer Beziehungen ins Zentrum ihrer Erzählung. Die Geschichte spielt im November 1975 und folgt einer 16-Jährigen, die ihr Erwachsenwerden zwischen ersten heimlichen Verabredungen, aufkeimenden Gefühlen und der ausufernden Sorge ihrer Mutter erlebt.
Genau dieses Unbehagen, das die Mutter scheinbar grundlos an ihre Tochter weitergibt, ist der Auslöser für ein tiefgreifendes Misstrauen. Nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber dem eigenen Selbst. Immer wieder fragt sich das Mädchen, ob sie vielleicht wirklich etwas in sich trägt, das die mütterliche Besorgnis rechtfertigt.
Aus der Perspektive der inzwischen erwachsenen Erzählerin wird deutlich, wie sich diese Mischung aus jugendlicher Abenteuerlust und elterlicher Kontrolle immer weiter zuspitzt. Heimliche Verabredungen, erste romantische Erfahrungen und der wachsende Wunsch nach Unabhängigkeit stehen im Kontrast zu einer tief sitzenden Angst, die sich in der Familie ausgebreitet hat. Und hinter allem lauert ein Tabu, das sich kaum in Worte fassen lässt und doch zwischen den Zeilen umso deutlicher hervorsticht. So entsteht das Bild eines Mädchens, das zwischen pubertärer Neugier und tiefer Verunsicherung pendelt, während sich die elterliche Angst zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung entwickelt.
Wie der Titel bereits andeutet, ist der Roman durch sich wiederholende Muster geprägt. Diese Struktur gibt Einblick in die dysfunktionalen Verhältnisse, ohne sich in plakativen Erklärungen zu verlieren, und macht erfahrbar, wie schwierig es ist, familiäres Schweigen zu brechen. Obwohl die Wörter im Text mitunter als Gedanken förmlich über die Seiten strömen, lässt sich der Roman dank der gelungenen Übersetzung von Gabriele Haefs flüssig lesen. Da das Buch nicht in klassische Kapitel unterteilt ist, wirken viele Szenen wie Bruchstücke von Erinnerungen: Manche erinnern in ihrer Schärfe an Standbilder, andere huschen fast beiläufig vorüber.
Wer sich zur Leipziger Buchmesse auf die literarische Vielfalt des Gastlandes Norwegen einstimmen möchte, sollte Wiederholung nicht verpassen. Vigdis Hjorth zeigt einmal mehr, warum sie zu den bedeutendsten norwegischen Stimmen der Gegenwart zählt. Zwar finden sich in der Aufmachung des Buches ein paar Unstimmigkeiten, etwa Tintenflecken oder eine schwankende Druckqualität, doch mindern sie die Freude an der Lektüre kaum. Ihr Roman berührt mit feinen Beobachtungen, psychologischer Tiefe, und immer wieder lassen typische Details das norwegische Lebensgefühl aufblitzen, ob es nun die hellen Winternächte sind oder der obligatorische Skiausflug in der Schule.
Vigdis Hjorth: Wiederholung (aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs), erschienen 2025 bei den S.Fischer Verlagen, 160 Seiten.
Matias Faldbakken: „Armes Ding“
Von Ysanne Cremer

Heutzutage sprechen immer mehr Menschen von ihrer „chosen family“; die biologische Familie muss nicht zwangsläufig ein Ankerpunkt sein. Ähnlich ergeht es Sonder und Oskar, die Hauptfiguren von Matias Faldbakkens „Armes Ding“, zwei Waisenkinder, die sich finden und für den Spann der Geschichte zueinander gehören. Die Handlung beginnt auf einem norwegischen Bauernhof, auf dem eine Art Patchworkfamilie wohnt, darunter der Bauernjunge Oskar. Eines Tages entdeckt Oskar im Wald ein wildes Wesen, bringt es nach Hause, wäscht und füttert es.
Schon bald stellt sich heraus, dass es sich um ein Mädchen handelt. Unter den besseren Lebensbedingungen auf dem Hof zeigt sich, dass sie älter ist als zunächst angenommen. Innerhalb kurzer Zeit wächst sie zu einer jungen Frau heran, die Chaos in das monotone Leben der Bauernfamilie bringt. Ihre einzigartige und brillante Art zieht nicht nur die Menschen auf dem Bauernhof in ihren Bann. Und zugleich fragen sich alle: Woher stammt dieses geheimnisvolle Wesen, und welche Ereignisse haben ihre Vergangenheit geprägt?
Wer den Film Poor Things (2023) gesehen hat, wird die Ähnlichkeiten zu diesem Werk nicht übersehen können. Faldbakkens Text erschien ein Jahr vor dem Film. Die Geschichten weisen bemerkenswerte Parallelen auf. Beide handeln von einem kindlichen Geist im Körper einer jungen Frau, von junger Lust und auch von der Bedrohung durch die männliche Dominanz. Wer den Film ebenso faszinierend fand wie ich, sollte sich Faldbakkens Roman auch deshalb nicht entgehen lassen. Besonders interessant ist die Entwicklung der Beziehung zwischen Sonder und Oskar, die sich immer auf einem schmalen Grat zwischen Unschuld und animalischen Trieben bewegt. Erzählt wird hier aber nur aus Oskars Perspektive; manchmal fehlt uns also ein Einblick in die Psyche der mysteriösen Sonder. Max Stadlers Übersetzung trifft den skurrilen, märchenhaften und zugleich humorvollen und unprätentiösen Stil des norwegischen Autors hervorragend. Ein Buchtipp für die Zugfahrt nach Leipzig!
Matias Faldbakken: Armes Ding (aus dem Norwegischen von Maximilian Stadler), erschienen 2024 beim btb Verlag, 224 Seiten.
Heidi Furre: „Macht“
Von Inga Kuck
TW: Sexuelle und häusliche Gewalt
„Erinnerung ist ein Wesen, das seine Form ändert. Im Moment ist es ein Wolfstier, das um mich herumschleicht, um meine Kinder. Es wartet vor dem Haus an sternenklaren Morgen. Wenn ich abends das Licht ausschalte, steht es immer noch da. Und wenn ich nun zum Wolfstier hinausginge, es fragte, was es wolle? Der Blick des Tieres sagt, dass es meine Schuld war.“
Winter in Oslo. Liv ist Mitte dreißig. Sie arbeitet als Pflegerin, ist eine liebevolle Partnerin für ihren Mann, eine gute Freundin und die Mutter von zwei Kindern. Als was Liv auf keinen Fall gesehen werden will: als das Vergewaltigungsopfer, das sie einmal war. Nicht einmal ihr Mann und ihre Kinder wissen davon. Sie bemüht sich, ein gewöhnliches Leben zu führen, und lässt sich nichts anmerken. Doch es fühlt sich an, als würde ihr Körper bloß verschiedene Rollen einstudieren. Der Vorfall liegt ewig zurück und immer noch bestimmt er ihr Leben. Die Erinnerung lauert ihr wie ein Wolfstier vor ihrem Haus auf, Tag und Nacht. Liv kämpft darum, ‘das Tier’ abzuschütteln. Sie will endlich ihre Angst und ihren Zweifel ablegen.

„Du glaubst vielleicht, ich sei ein kaputter Mensch. Dass ich hier einfach rumliege und eine Vergewaltigte bin. Aber das bin ich nicht. Ich bin alles andere. Das Leben bleibt für Vergewaltigte nicht stehen.
In kurzen Kapitelabschnitten erzählt uns die Protagonistin davon, wie die Erinnerung sie immer wieder in ihren Alltagsszenen heimsucht. Zu Beginn nur flüchtig in einem Nebensatz angedeutet, wird es im Verlauf des Buches immer expliziter. So zeichnet sich über die Kapitel hinweg ein deutliches Bild ab. Immer tiefer wird man in den Gedankenstrudel von Liv gesogen und kreist mit ihr immer enger um die tatsächliche Nacht. Was passiert am Ende, wenn sie sich ihrer großen Angst stellt?
Eindringlich und kraftvoll erzählt der Roman „Macht“ von einer Frau, die die Opferrolle ablehnt, die wütend ist und sich aus dem Gefühl der Machtlosigkeit zu befreien versucht. Die Autorin Heidi Furre findet in diesem Roman eine schmerzvolle, aber klare Sprache für ein Thema, das sonst von Sprachlosigkeit geprägt ist. Ein wichtiges Buch, das es schafft, dass man als Leser*in trotz der thematischen Schwere leicht durch die Seiten fliegt.
Heidi Furre: Macht (aus dem Norwegischen von Karoline Hippe), erschienen 2024 beim DuMont Buchverlag, 174 Seiten.
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