Ach, du liebe Lyrik! Der Zugang zu dir ist oft nicht leicht. Doch nimmt man sich einmal Zeit und lässt dich so richtig wirken, dann kannst du ganze Berge in der Seele und auch im Kopf versetzen. So ging es mir jedenfalls mit Anja Kampmanns Lyrikdebüt Proben von Stein und Licht, das im vergangenen Jahr in der Reihe Edition Lyrik Kabinett bei Hanser erschienen ist.
Besagte Edition wurde von der Stiftung Lyrik Kabinett München ins Leben gerufen. Die Stiftung ist gleichzeitig die zweitgrößte auf Lyrik spezialisierte Präsenzbibliothek Europas. Seit 2006 erscheinen in der Reihe Edition Lyrik Kabinett zwei bis vier Lyrik-Bände pro Jahr, viele von ihnen zweisprachig. Herausgeber*innen der Reihe sind Ursula Haeusgen, Michael Krüger, Wolfgang Matz und Raoul Schrott. Proben von Stein und Licht ist mein erster Gedichtband aus dieser Reihe. Durch die Edition bin ich auf ihn aufmerksam geworden. Die Reihe glänzt durch eine schlichte, dennoch stilvolle Gestaltung. Anja Kampmanns Debüt liegt gut in der Hand und lädt schon rein äußerlich mit einem Bild, das verschiedenfarbige Wolken zeigt, zum gedanklichen Abschweifen ein.
Viel schöner wird es dann nur noch beim Aufschlagen des Buches. Kampmann hat ihre Gedichte in fünf Zyklen unterteilt, die mit glas, kalk, eis, salz und sand betitelt sind. In jedem Gedichtzyklus widmet die Lyrikerin sich einem dieser monumentalen Materialien und Naturstoffe, mal sehr direkt, mal im übertragenen Sinne. Ich habe in jedem Zyklus ein Lieblingsgedicht gefunden, allein wegen derer sich das Lesen von Proben von Stein und Licht schon lohnt. Einzelne Verse aus diesen Lieblingsgedichten werde ich euch vorstellen und versuchen, die Besonderheit der Gedichte und somit auch von Kampmanns Lyrik generell herauszuarbeiten.
Zyklus glas, Gedicht Versuch über das Meer
Es soll um den Horizont gehen den / Farbauftrag der Ferne das helle Knistern
Auf ganz besondere Weise, rauschend und ruhend zugleich, wird in diesem Gedicht das Meer in all seinen Facetten betrachtet. Das Meer als Sehnsuchtsort vieler Menschen, das Meer als Lebensraum vieler Tiere, das Meer selbst als wildes Tier – Anja Kampmann beschäftigt sich in ihren Gedichten häufig mit der Natur. Nun ist diese ja ein althergebrachtes Motiv der Lyrik, doch in Proben von Stein und Licht wird Natur noch einmal ganz neu behandelt. Leise und mit ganz eigenem Rhythmus wird mir die Natur durch Kampmanns Gedichte wieder nah.
Zyklus kalk, Gedicht die schatten bleiben…
die schatten bleiben hinter dir zurück / wenn du die richtung hältst
Dieses Gedicht hat mich mit seiner unendlichen Melancholie gepackt. In die schatten bleiben habe ich ein tristes Familienleben auf dem Land herausgelesen, dem das lyrische Ich entflieht. In nur 15 Versen schafft Kampmann es hier, ein ganzes Leben zu erzählen und dabei diese ganz besondere Stimmung des Loslassens und Aufwachsens einzufangen.
Zyklus eis, Gedicht vierzehn
es ist warm du sprichst durch das offene fenster / wie zu dir selbst
In vierzehn spricht das lyrische Ich ein wahrscheinlich vierzehnjähriges Kind an. Das Gedicht zeigt, wie unbeschwert und spielerisch der Alltag eines Kindes sein kann. Gleichzeitig macht das lyrische Ich auch deutlich, dass diese Zeit endlich ist. Hier zeigt Kampmann, wie wandelbar sie in ihrer Lyrik ist. Schlagen die meisten ihrer Gedichte einen sehr erwachsenen Ton an, so gelingt es ihr bei vierzehn eine kindliche Leichtigkeit zu erschaffen, die trotzdem nicht kindisch wirkt.
Zyklus salz, Gedicht mitten
was der widerstand ist für die zeit die du / gibst uneinholbar das gras in den gängen / richtet sich auf nach jedem schritt es sind / keine richtungen hier nur diese reise
In diesem Gedicht wird klar, dass Kampmann schon jetzt zu den Lyriker*innen in Deutschland gehört, die ihr Handwerk beherrschen. Ganz sanft schiebt sie die Leser*innen in mitten von einem Sinnzusammenhang zum nächsten. Wie im Schwebezustand liest sich dieses Gedicht mit seinen fließenden Übergängen und von Vers zu Vers eröffnen sich immer wieder neue Welten. Wunderbar, so soll Lyrik sein!
Zyklus sand, Gedicht merseburger landstraße
draußen nur noch schlafende / vereinsheime ungemähtes gras / mit pappeln vor dem grau
Das lyrische Ich nimmt uns hier mit nach Sachsen-Anhalt und beschreibt mit klarem Blick die Provinz mit ihren „stromnetze[n] voller wünsche“. Vergänglichkeit und Tristesse treten zu Tage und „[…]das bauchfell einer katze / das niemand liebkost.“ Das ist traurig und schön zugleich. Kampmann nimmt uns an die Hand, zeigt uns die kleinen Dinge des Lebens in einer unglaublich poetischen Sprache, die den Blick erweitert für das Ungesehene.
Proben von Licht und Stein ist ein herausragendes Lyrikdebüt, das zeigt, wieviel Gefühl und Geschichte in nur wenigen Versen transportiert werden können. Nach jedem einzelnen Gedicht hatte ich das Gefühl, die Welt um mich herum für ganz kurze Zeit mit anderen Augen zu sehen. Anja Kampmanns Lyrik ist für das laute Lesen gemacht, erst dann können sich ihre Verse so richtig entfalten. Einen kleinen Vorgeschmack auf den Gedichtband gibt es hier:
By the way: Anja Kampmann, die auch bei der letzten HAM.LIT zu Gast war, wird in diesem Jahr neben anderen tollen Autor*innen auf dem Prosanova 17 lesen. Ein Grund mehr, dieses wunderbare Festival zu besuchen!
Anja Kampmann: Proben von Stein und Licht. Hanser. 96 Seiten. 15,90 €.
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