Zweifellos war Charles Dickens ein Workaholic. Und selbst das mag noch ein Euphemismus sein. Dickens war ein exzessiver Briefeschreiber, Journalist, Herausgeber, Laiendarsteller, Entrepreneur, Vater von zehn Kindern, leidenschaftlicher Spaziergänger (12-15 Meilen am Tag) und zu guter Letzt Verfasser von Weltliteratur… Um nur einige Leistungen zu nennen. Die Engländer behaupten gar, er habe mit A Christmas Carol Weihnachten erfunden, wie wir es kennen – als ein fröhliches Fest im Kreise der Familie inklusive gutem Essen und Gesang.
Für die Biografin Claire Tomalin ist Dickens deshalb „Menschlichkeit hoch zwei. Er ist wie fünf Männer in einem.“ Diese ungeheure Schaffenskraft blieb nicht ohne Folgen. Im Alter von 58 Jahren starb Dickens an einem Schlaganfall und hinterließ den unvollendeten Detektivroman Das Geheimnis des Edwin Drood. Angesichts dessen erscheint das Unterfangen der Anglistin Ulrike Leonhardt wahrhaft tollkühn. Sie hat sich der Geschichte angenommen und alles Fragmentarische verdichtet und fortgeführt das heißt fortgeschrieben, um so den Leser eine schlüssige, spannende Lektüre zu bieten.
Davon überzeugen lassen konnte sich gestern das Publikum im Kreuzberger Literaturhaus Lettrétage. Anlässlich des 200. Geburtstags ehrte der Manesse Verlag Dickens mit einer Lesung. Obwohl das Buch bereits 2001 erschienen ist, war der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. Das rege Interesse entsprang sicherlich auch dem Wunsch und der Neugier, einen anderen Dickens kennenzulernen, der hierzulande – zu Unrecht – als Kinderbuchautor abgetan wird.
Der Schauspieler Denis Abrahams las ausgewählte Passagen und vermochte jedem Charakter eine individuelle Stimme zu geben. Schnell war man mittendrin im Geschehen. Eine alte Dame prophezeit Edwin Droods Untergang. Dieser verschwindet kurz darauf in einer stürmischen Winternacht, und zwar spurlos. Alle Stadtbewohner „tragen Trauer, so wie man um einen Toten trauert.“ Aber wo ist die Leiche? Diese Frage scheint niemanden recht zu interessieren. Alle gehen von einem Mord aus und suchen den Mörder. Auch John Jasper, Droods Onkel und Vormund, der von der besonderen Schwere des Verbrechens überzeugt ist, da es in der Weihnachtsnacht verübt wurde. Ein Umstand, der möglicherweise von Bedeutung sein könnte. Aber auch ein wenig kitschig anmutet. Weshalb Japsers Gesprächspartner süffisant erwidert: „Wäre ein Mord am 23. Dezember weniger schlimm?“ An diesem Beispiel zeigt sich, wie pointiert und selbstironisch Dickens mit dem Stoff für eine Kriminalgeschichte umzugehen vermag. Fast anderthalb Stunden wurden gelesen. Und das Zuhören fiel einem leicht, weil Dickens Sprache eine Bildersprache ist. Und weil Dickens es versteht, Spannung und Humor in der Waage halten.
Fast jeder Roman von Dickens wurde bereits verfilmt – manche sogar mehrfach. Äußerst seltsam, dass Das Geheimnis des Edwin Drood es noch nicht als Vorlage in die Kinos geschafft hat. Verdient hätte er’s.
Charles Dickens „Das Geheimnis des Edwin Drood“ Kriminalroman, In Zusammenarbeit mit Ulrike Leonhardt, aus dem Englischen von Burkhart Kroeber, Manesse Verlag, Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag, 768 Seiten, 24,95 €, erschienen September 2001
Foto © Markus Streichardt
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