Lohnt es sich überhaupt, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen? Genügen ein deutscher Pass, exzellente Sprachkenntnisse und Grundkenntnisse im Christentum für das Deutschsein, oder sind der Name und die Haarfarbe auch entscheidende Faktoren?
Diese Fragen stehen im Mittelpunkt in Dilek Güngörs zweitem Roman, „Ich bin Özlem“, der von den Identitätsschwierigkeiten einer zweifachen Mutter erzählt. Özlem, die in Deutschland geborene, von türkischen Eltern stammende Deutschlehrerin lebt ein an Erwartungen ausgerichtetes gelebtes Leben, welches sie gar nicht glücklich macht.
Mit neununddreißig kann sie sagen, dass sie ihr ganzes Leben damit verbracht hat, der deutschen Gesellschaft zugehörig zu werden, trotzdem fühlt sie sich ausgegrenzt – und das alles nur wegen der Herkunft ihrer Eltern. „Ich habe mir eingeredet, wenn ich nur gut genug Deutsch kann und studiere und alles richtig mache, dann gehöre ich irgendwann auch dazu“, sagt sie enttäuscht, da die Realität anders aussieht: „Es ist überhaupt nicht möglich […], nachträglich die Seiten zu wechseln. Du musst von Anfang an auf der richtigen Seite stehen.“ Was sie damit meint, ist nicht die systematische Trennung von Menschen wie im Holocaust oder der Apartheid. Die einzelnen Beispiele stellen aber eine haargenaue Analyse des Alltags aller Menschen dar, die wegen ihres Namens oder wegen ihrer Haarfarbe nicht als zugehörig wahrgenommen werden.
Özlem wird oft gefragt, ob ihre Tochter neben dem deutschen auch einen türkischen Namen hat, und ein Mann aus ihrem Bekanntenkreis wird aufgrund seines türkischen Namens nicht als Deutscher akzeptiert, obwohl er als seinen Geburtsort deutlich Hamburg nennt. Özlem wird immer wieder daran erinnert, dass sie zwischen zwei Kulturen lebt, obwohl sie als geborene Württembergerin wenig Ahnung von der türkischen Kultur hat. Sie ist in der Türkei nur im Urlaub gewesen, sie kennt sich im Christentum besser als im Islam aus, und sogar Türkisch spricht sie fehlerhaft. Sie wird von ihren Cousinen korrigiert, wenn ihre Kinder die Großmutter nicht anneanne (Muttersmutter) sondern nene (Oma) nennen, und sie selber findet es peinlich, dass sie oft bei bestimmten türkischen Wörtern nicht sicher ist. Von Türken nach ihrer Herkunft gefragt zu werden hasst sie genauso, wie von Deutschen. Sie gehört nirgendwo hin, fühlt sich nie sicher, trotzdem scheint manchmal diese Unbestimmtheit ihre Heimat zu sein: Sie spricht ihren eigenen Namen falsch (nach der deutschen Art) aus und es nervt sie, wenn eine Sekretärin in der Schule, an der sie unterrichtet, ihn türkisch ausspricht.
Obwohl sie es nicht wirklich will, präsentiert sie sich, aufgrund unausgesprochener Erwartungen immer wieder als Ausländerin. Ihren Freunden kocht sie türkisches Essen (sogar solches, welches ihre Mutter nie zubereitet hat), weil sie nach ihren Erfahrungen einen inneren Zwang danach hat.
„Niemand erwartet von mir, dass ich etwas Türkisches mitbringe, aber für mich ist das logisch, Türkin bringt türkisches Essen mit und alle wollen das Rezept.“
Weil sie sich unter solchen Umständen nicht zugehörig fühlen kann, entwickelt sie eine hohe Sensibilität gegen Ausländerfeindlichkeit. Sie kann es nicht ertragen, wenn die Kassiererinnen in einem Supermarkt über Bauarbeiter betont als Ausländer sprechen und es stört sie, dass die Türken nicht mal richtig parodiert werden können: „Wenn in der Reklame jemand einen Türken nachmacht, der gebrochen deutsch spricht, höre ich sofort, dass der Sprecher kein Türke ist […], der Satzbau verrät ihn.“ Wenn ihre Freunde die Zukunft ihrer Kinder diskutierend, eine Schule als besonders schlecht betrachten, begründen sie es damit, dass die meisten Schüler von türkischen oder arabischen Familien stammen, was Özlem nicht kommentarlos stehen lassen kann. Sie bestreitet die Aussagen ihrer Freunde, doch kann sie sich nicht verständlich machen. Während ihre Freunde unter Türken und Araber komplizierte Familien verstehen, sieht sie vor allem eine, auf Herkunft basierende Einordnung und fühlt sich politisch erniedrigt: Es ist nicht nur die Schule, wo am Ende nur türkische und arabische Kinder bleiben, selbst Özlem wird, trotz allem, ständig von den Deutschen stigmatisiert. „Ich hab mit Türkisch doch gar nicht dich gemeint“, sagt einer ihrer Freunde zu ihr, damit beweisend, dass das Problem, was Özlem so empfindlich macht, gar nicht erfunden ist.
Trotz des politischen Bewusstseins und der ausführlichen Analyse der einzelnen Lebenssituationen, scheint das Buch belletristisch unmotiviert zu sein. Obwohl Özlem von einer ganzen Reihe von Lebenssituationen erzählt, die unbestreitbar zur Diskussion genommen werden sollten, bleibt die Frage, warum der Verlag sich entschieden hat, das Buch mit der Bezeichnung „Roman“ herauszugeben, offen. Wegen der politischen Berichtsmäßigkeit, die jede zusätzliche Ästhetik ausschließt, ist es schwierig, das Buch als belletristisches Werk und nicht als eine narrative Kolumnensammlung wahrzunehmen. Man würde sich gerne das Letztere wünschen, denn es gibt nämlich einen großen Unterscheid zwischen den Erwartungen an einen Roman und an gesammelte Kolumnen. Was man in der taz oder im Missy Magazine gerne liest, wird vielleicht von gleicher Person, wenn als Literatur etikettiert, weniger lustvoll gelesen.
„Du hast ein gestörtes Verhältnis zu Türken“,
sagt ihr Mann Philipp und man fühlt sich erleichtert, dass gegen Ende des Buches eine tiefere Bedeutungsalternative geboten wird. Denn das Unklare, aber desto Herausfordernde im Buch ist genau, was am wenigsten diskutiert wird: Dass Özlem nicht nur aufgrund ihrer Erfahrungen in ihrer Krise feststeckt, sondern weil sie, wie sie einmal erwähnt, nicht nur türkisch, sondern auch „kompliziert“ ist. Es wird nach einem entstehenden Streit klar, dass Özlem nicht nur aus Alltagsrassismus, sondern auch aus anderen Unsicherheiten stammende Schwierigkeiten hat. Diese haben nicht nur eine Richtung, und man hat endlich die Freiheit, sowohl Özlem als auch das Buch als ästhetisch-intellektuelle Komplexität zu verstehen. Auch wenn die Befreiung von der didaktischen Erzählweise nur ein paar Seiten belletristischen Lesespaß bietet, kann man sich schließlich freuen, dass die politisch motivierte Eigennützigkeit durch belletristisch motivierte Mehrdeutigkeit ersetzt wird.
Was dieser gesamtmenschliche Aspekt ist, der das Buch als Literatur rettet, überlasse ich den Lesern, es selbst zu entdecken. Obwohl das Buch kein Meisterwerk ist, macht es seine Arbeit als sensibilisierender Lehrstoff für Empathie-Anfänger exzellent.
*Dilek Güngör ist deutsche Journalistin und Buchautorin. Ihre gesammelten Kolumnen erschienen in den Bänden „Unter uns“ und „Ganz schön deutsch“. Ihr erster Roman, „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“ wurde 2007 veröffentlicht. Sie schreibt für die Berliner Zeitung und publiziert als Gastautorin Beiträge für die Zeit-Online Kolumne „10 nach 8“.
Güngör, Dilek: Ich bin Özlem. Verbrecher Verlag 2019.
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