Lektüre der Longlist bis zum 08.10. – Ein Selbstversuch Teil II

Das „Longlistprojekt“ geht in die zweite Runde. Wer den ersten Teil lesen wollte, musste schnell sein, so ist es manchmal im Leben. Es wird jedoch gemunkelt, dass Teil 1 und somit die Einführung in das Projekt noch in ein Remake geht und in Kürze wieder hier erscheinen wird… Für alle diejenigen, die noch nicht genau wissen, worum es geht: Die Überschrift sagt eigentlich schon alles.

Für diese Woche lagen „Ich nannte ihn Krawatte“ und „Onno Viets und der Irre vom Kietz“ an. Zunächst aber vielleicht noch ein kurzes Wort zu „Der Russe ist einer, der Birken liebt“.

Dieses Buch wurde schon lang und breit in allen möglichen Medien besprochen, Frau Grjasnowas las sogar höchst selbst aus ihrem Debüt beim Sommerfest des Freundeskreises der Angewandten Literaturwissenschaft im LCB, deshalbDer_Russe_ist_einer_der_birken_liebt an dieser Stelle nur ein kurzer Überblick. In dem Roman erzählt Mascha, eine junge aus Aserbaidschan stammende Deutsche Ihre Geschichte. Da wäre zumal ihr Freund, der schwer erkrankt. Dann hat sie noch einige enge Bekannte, die genauso wie Mascha eine Heimat suchen und sie aber weder in Deutschland noch in ihrem Geburtsland finden. Vor allem ist es aber eine Geschichte von Masche über sich selbst. „Die Zeit“ schrieb dazu: „Olga Grjasnowa trifft aus dem Stand den Nerv ihrer Generation.“ Was ich als totalen Quatsch bezeichnen würde, denn wie kann die Geschichte einer Person den Nerv einer gesamten Generation treffen? Es ist eine mitreißende Geschichte, ohne Frage und Olga Grjasnowa weiß sie zu erzählen. Mir persönlich hat sie gefallen. Mit ihrer recht eigenwilligen Protagonistin weiß sie aber nicht nur „Nerven zu treffen“ sondern auch auf die Nerven zu gehen. Das kann man als Aufsässigkeit und Individualität einer durch und durch charismatischen Studentin akzeptieren oder als egozentrisches Gehabe abtun. Aber egal ob man Mascha mag, oder nicht, eindrucksvoll und sehr aufschlussreich ist die Darstellung der Zerrissenheit einer jungen Frau, die nicht weiß wo sie hingehört. Bei aller Begeisterung, als Buchpreisgewinner, sehe ich diesen Titel nicht, vor allem deshalb, weil Melinda Nadj Abonji ihn mit ihrem tollen Roman „Tauben fliegen auf“ vor zwei Jahren gewann. Das ist insofern relevant, da Grjasnowas Roman exakt das gleiche Thema aufgreift. Da bietet die Longlist noch genug, man muss es sagen, bessere Alternativen.

Ich_nannte_ihn_KrawatteIch versuch gar nicht erst einen pfiffigen Übergang zum nächsten Titel zu finden, der genauso still und harmonisch daher kommt, wie die Fische auf dem Schutzumschlag: „Ich nannte ihn Krawatte“ von Milena Michiko Flašar. Ein „Hikikomori“ beschließt nach zweijährigem, selbst auferlegtem Hausarrest sein Zimmer zu verlassen und setzt sich in einen Park. Dort begegnet er dem „Salaryman“. Sie werden sich nun täglich treffen und ihre Geschichten erzählen. Es sind vor allem Geschichten vom Scheitern, von verpassten Gelegenheiten, von Feigheit und Reue, am Ende hat man einige Menschenleben vorübergehen sehen, aber eins fängt zum Schluss vielleicht gerade erst an. Trotz oder gerade wegen seiner sehr präzisen Sprache ist es eins der poetischsten Bücher. Die knappen Worte lassen viel Platz zwischen den Zeilen und sorgen so für eine angenehme Ruhe. Ein schöner Roman, shortlistverdächtig.

Zu guter Letzt: Der Knaller der Woche „Onno Viets und der Irre vom Kiez“, das ist ein Titel der sich reimt und was sich reimt ist gut! Das absolute Kontrastprogramm zum eben genannten Buch. Um es auf den Punkt zu bringen: Lest diesen Roman! In Dialekt und Mundart geschriebene Bücher sind nicht jedermanns Sache und ich bin einer dieser Jedermänner aber bei diesem Buch ist alles anders. Nach 30 Seiten Eingewöhnung geht’s direkt ab auf den Hamburger Kiez:

„Weltberüchtigter Fummelbummelrummel rund um die Uhr. Sündenpfuhl. Bordsteinweise Evas mit glänzenden Äpfeln, wo der Wurm drin ist. Babel, Babel, hier ist Babel. Hier schreibt sich SEX mit drei X. Hier bist du Schwein, hier darfst du’s sein. Hier wird gepiept, bis die Englein singen. Die Nacht ist dein, dein Leben ein Fest, und die Saaltore leuchten in Rot, in Gelb und in einem derartigen Blau, daß es Schatten auf den Gschulz_onnoehsteig wirft.“

Vor 90 Jahren Franz Biberkopf, heißt der moderne „Großstadtheld“ nun Onno Viets. Wir haben es hier mit einem mittfünfziger Hartz IV Empfänger zu tun. Einer spontanen Eingebung folgend wird er Privatdetektiv. Er soll Fiona Popo, ein bekanntes Sternchen aus einer Porno-Castingshow beschatten und das Beweisfoto für ihre Untreue liefern, soweit der Kern der Sache. Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, doch diese aberwitzige Milieustudie ist wahnsinnig komisch, dabei niemals platt und sprachlich einfach großartig! Ein Muss auf der Shortlist!

 

Olga Grjasnowa
„Der Russe ist einer, der Birken liebt“
erschienen bei: Hanser
288 Seiten, 18.90€

Milena Michiko Flašar
Ich nannte ihn Krawatte
erschienen bei: Wagenbach
144 Seiten, 16.90€

Frank Schulz
Onno Viets und der Irre vom Kiez
erschienen bei: Galiani Berlin
366 Seiten, 19.99€

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