Die Schatten der Vergangenheit lauern überall. Für Franz Biberkopf wird das zur bitteren Wahrheit. Der Arbeiter erschlug aus Eifersucht seine Freundin Ida und verbüßte sein Verbrechen in der Strafanstalt Tegel. Nun ist er wieder frei und auf dem besten Weg, ein besserer Mensch zu werden – wären da nicht die selbsternannten Moralrichter, die überall auf dem Pfad der Tugend lauern und partout nicht vergessen mögen.
Der Boden der Schaubühne am Lehniner Platz ist mit Münzen bedeckt, darüber hängt in blauen Lettern das vierte Gebot „Du sollst nicht stehlen.“ Das hält allerdings nicht alle Zuschauer davon ab, sich als kleines Souvenir eines der Geldstücke leise in die Tasche zu stecken. Soviel also zur Moral.
Volker Lösch hatte für seine erste Regiearbeit in Berlin die bewährten Utensilien für einen politischen Abend im Koffer: einen Laienchor, diesmal bestehend aus Ex-Sträflingen, plakative Bilder und starken Aktualitätsbezug.
Die Geschichte wird sehr stringent erzählt, beklemmend durch biografische Einschübe der Laienchor-Darsteller und doch immer mit vertrauensvollem Rückgriff auf die literarische Vorlage. In chorischen Passagen dringen die rhythmischen Maschinengeräusche in Döblins Großstadtroman durch; wer eine der vorderen Platzkarten auf der Bühne ergattert hat, wird buchstäblich und wortgewaltig überrollt. Sebastian Nakajew als Franz Biberkopf tut sein Übriges: mit Berliner Schnauze und der Verzweiflung eines verdammten Mannes strahlt er eine solch wuchtige Präsenz aus, dass sich auch der abgebrühteste Kopf hin und wieder zu einem empörten Nicken hinreißen lassen dürfte.
So richtig entzündet sich der Abend jedoch nicht an der sozialen Ungleichheit, die durch Löschs unbarmherzig aktuellen Blick auf den Roman – wie Dirk Pilz richtig schreibt – eigentlich noch verschärft wird. Das mag daran liegen, dass man Löschs Mittel mittlerweile kennt und ein Eklat wie am Hamburger Schauspielhaus schwer zu wiederholen ist. Doch geht es auch nicht darum, den presseträchtigen Skandal zu suchen, sondern sich mit einer Theaterform auseinander zusetzen, die gekonnt den Daumen in die Wunde legt. Ja, es ist mal wieder Regietheater und dazu noch ziemlich gelungen. Herrn Kehlmann würde das wahrscheinlich nicht gefallen. Allen anderen aber sei ein Besuch wärmstens empfohlen. So darf Literatur gerne inszeniert werden!
„Berlin Alexanderplatz“ läuft vom 08.-11. Februar, Beginn ist jeweils um 20.00 Uhr, in der Schaubühne am Lehniner Platz. Tickets gibt’s für Studenten für 8 Euro und können hier online gekauft werden.
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