When the engine stops I’m weightless.
My mind is weightless.
My body’s weigthless.
When the engine stops.
Die rauhe Stimme des Laserkraft 3D-Sängers tönt aus Raum L 32/202 an der FU Berlin. Es ist Samstag, kurz nach 11 Uhr. Ich fange automatisch an leicht zu tanzen, während ich mir einen Platz suche. Die literarische Werkstatt unter der Leitung von Rainald Goetz ist ein electro-house dancefloor mit dem Unterschied, dass niemand Bier trinkt, sondern alle Kaffee aus Pappbechern.
Auf Goetz‘ Schreibtisch steht auch einer. Unter und neben dem Tisch liegen Zeitungen und Zeitschriften. Titanic, ZEIT, Spiegel, Berliner Zeitung – sie wirken wie wahllos fallengelassen, sind aber von Goetz genau so, wie sie dort liegen, angeordnet worden. Ich bin mir sicher, dass ein System dahinter steckt, habe aber keine Ahnung welches.
When the pressure drops I’m weightless.
My mind is weightless.
My body’s weigthless.
I don’t feel anything.
Überrascht. Jeder, der neu in den Raum kommt, guckt zunächst überrascht und muss dann grinsen. Rainald Goetz steht jetzt neben dem kleinen roten Kassettenrekorder. Er dreht die Musik lauter.
Go!
Injection in this orbit.
Stars and galaxies are passing by.
Velocity of light.
Goetz dreht den Lautstärkeregler langsam runter. Stille. „Auf meiner Uhr ist es jetzt genau 11:13 und 2 Sekunden“, sagt er und setzt sich auf seinen Stuhl. Es ist die typische Seminar-Situation: Der Dozent vorne, die Studierenden im Halbkreis hinter Tischen. Keiner hat an sein Namensschild gedacht. Auch typisch.
Vor Rainald Goetz liegen Zettel, ein Notizbuch, seine Kamera, Leif Randt (bzw. sein Buch), seine silberne Armbanduhr und weitere Zeitschriften. Da steht ein Wasserglas und eine Vase mit Maiglöckchen. „Es ist Samstag, der 12. Mai.“ Goetz fängt das Seminar an, wie seinen Vortrag vom vergangenen Donnerstag. „Joseph Beuys wäre heute 91 Jahre alt geworden.“ Deswegen die Blumen. Es sind Joseph-Beuys-Gedächtnis-Maiglöckchen.
Ich mag es, wie Goetz von anderen Künstlern spricht. Er hat nicht nur Fans, er ist auch selbst einer. Während seiner Antrittsrede grüßte er Judith Schalansky, die zeitgleich in Bielefeld las und gratulierte Moritz von Uslar zum kürzlich gewonnenen Fontane-Preis: „Moritz, herzliche Gratulation.“
Heute sitzt er zum ersten Mal nur vor uns. Keine Presse, keine Laudatoren. Wir sind die „Nachwuchsschriftsteller“, die es laut Goetz gar nicht gibt. Trotzdem sind wir hier und wollen von ihm lernen. Beibringen wird er uns nichts, dass wissen wir seit letztem Donnerstag: „Es wird überhaupt nichts gebracht,“ sagte er da. „Die Vorstellung, dass geistige Vorgänge im Individuum, um die es letztlich beim Schreiben geht, in einer serviceartigen Weise von außen irgendwo abgezapft werden können, ist falsch.“
Seit Goetz deutlich machte, dass er eine literarische Werkstatt für Blödsinn hält, frage ich mich, ob er jetzt vor uns sitzen würde, wenn er nicht müsste. Ob das hier alles neu für ihn ist und ob er diesen Job nur deswegen macht, weil die Heiner-Müller-Gastprofessur an den mit 30.000 Euro dotierten Berliner Literaturpreis geknüpft ist. Er sitzt da, als würde er jeden Moment aufspringen wollen. Wie ein Sprinter, der auf den Startschuss wartet.
Zuerst sprechen wir über die Hausaufgaben. Teil zwei: Texte, die in den letzten Tagen ein Leseerlebnis waren. Ich habe die vergangenen zwei Tage hauptsächlich über subjektfreie Sätze nachgedacht. Teil zwei der Hausaufgaben ist dabei zu kurz gekommen. Ich hole Jonathan Franzen (bzw. sein Buch The Corrections) aus meiner Tasche. Das lese ich gerade.
Rainald Goetz möchte, dass alle Teilnehmer die mitgebrachten Texte vorstellen und kurz darüber sprechen. Welcher Welterfassungsertrag hinter der Lektüre steht, soll herausgefunden werden, „weil die Welt interessanter ist, als die Literatur.“
Goetz wartet nicht auf Meldungen oder folgt der Sitzreihenfolge, wie an der Uni üblich. Nein, er ruft Namen auf. „Wie in der Schule!“, sage ich panisch zu meiner Sitznachbarin. Und so fühle ich mich auch. Wie im Französischunterricht, wo ich Sprache und Hausaufgabe oft nicht verstanden habe und 45 Minuten versuchte, klein und unauffällig zu wirken, um ja nicht dran genommen zu werden. Geklappt hat es so gut wie nie.
Vorgestellt wird alles mögliche: Zeitungsartikel, Unitexte, Romane, Werbetexte, Postkarten. Literatur ist überall. „Mein Wort des Tages ist ‘Automatencasino’“, sagt Rainald Goetz. Er hat es groß in seinem Notizbuch stehen. „Ich bin da schon so oft dran vorbeigegangen, heute habe ich es zum ersten Mal richtig wahrgenommen.“
Jeder Teilnehmer, der sein Leseerlebnis vorgestellt hat, wird einer Gruppe zugeteilt. „Gruppe 4“, sagt er, oder: „Gruppe 7“. Insgesamt scheint es acht Gruppen zu geben. Goetz geht bei der Einteilung keineswegs chronologisch vor. Wieder denke ich: Er muss ein System haben. Aber welches?
Ich bin in Gruppe 5. Zusammen mit Micha, Heinrich und Kati. Wir sollen Teil eins unserer Hausaufgaben, den subtextfreien Textanfang, diskutieren und denjenigen aus der Gruppe küren, der die Aufgabe am besten gelöst hat.
„Mein Text ist grausam“, warne ich die anderen. „Ich schreibe sonst ganz anders.“ Während ich am gestrigen Nachmittag und Abend darüber nachgedacht hatte, was ein Subtext ist, war die Rotweinflasche vor mir irgendwann leer und ich zu dem Schluss gekommen, dass es keine subtextfreien Sätze gibt. Alles impliziert irgendetwas, überall kann man etwas reininterpretieren. Oder denke ich in zu sehr wie ein Deutschlehrer?
Gegen Mitternacht habe ich folgende, unschöne Sätze auf ein Stück kariertes Papier gekritzelt:
Ich bin Schriftsteller. In einem Klamottenladen in Berlin treffe ich einen anderen Schriftsteller. Ich mag ihn nicht. Er schreibt Sätze ohne Subtext.
Die anderen lachen ein bisschen als ich vorlese, glauben aber auch, dass ich den subtextfreisten Text geschrieben habe.
„Sollen wir den subtextfreisten oder den besten Text küren?“, fragen wir Rainald Goetz. Er lacht und sagt: „Gute Frage. Ich glaube ja, dass der subtextfreiste auch der beste ist.“
Hä? Ich bin verwirrt. Die anderen drei Texte, sind um einges besser als meine vier Sätze. Da sind wir uns in der Gruppe einig. Scheinbar haben wir das mit dem Subtext immer noch nicht verstanden. Wir wählen trotzdem meine Sätze aus, weil wir wissen wollen, was Goetz dazu sagt.
„Der Text hat den Subtext, dass er keinen Subtext hat“, sagt er. Ich seufze. Diese Subtexte sind noch viel komplizierter, als ich dachte. Wir hören weitere Texte. Goetz kommentiert und schreibt in sein Notizbuch. Mit Füller. Auf dem Tisch liegt eine Packung blauer Pelikanpatronen. Das war ein subtextfreier Satz. Glaube ich. Nach und nach haben alle Seminarteilnehmer ein Aha-Erlebnis, man hört Groschen fallen, sieht Glühbirnen über Köpfen aufleuchten. Auch ich glaube verstanden zu haben, was Rainald Goetz meint, wenn er von Subtext spricht. Es geht nicht um den Inhalt. Es geht um die Sprache, um den mitschwingenden Unterton. Soviel kann ich sagen, vernünftig erklären kann ich es nicht.
Das Seminar macht Spaß. „Rainald Goetz ist ‘n cooler Typ”, sind wir uns schon in der Mittagspause einig. Auch er selbst macht – im Vergleich zum Beginn der Sitzung – einen viel lockereren Eindruck. Er lacht viel und nimmt uns ernst. Ich finde die Atmosphäre nach sieben Stunden Seminar angenehm familiär. Zum Schluss verschenkt er die Joseph-Beuys-Gedächtnis-Maiglöckchen an die Studentin, die das Lektüreerlebnis mitgebracht hat, das ihm am besten gefallen hat. Das Seminar ist für heute vorbei. Ich muss wieder an Laserkraft 3D denken:
Nein man, ich will noch nicht gehen
Ich will noch ‘n bisschen tanzen.
Nächste Woche wieder.
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sehr spannend! nächste woche wieder mit bericht, bitte? :)