„Nach oben ist das Leben offen“ heißt der im Frühjahr im Matthes & Seitz Verlag erschienene Kurzgeschichtenband von Philipp Schönthaler. Darin erzählt er von der allzu menschlichen Sehnsucht, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und das Bestmögliche daraus zu machen – und davon, wie schwierig das eigentlich ist.
Auf dem Cover spannt sich ein zart hellblauer Himmel über einer weißen Bergkette. Sicher ein Buch mit Geschichten über junge Menschen, die versuchen, ihre Träume zu verwirklichen, die auf der Suche sind nach dem Leben, das sie leben wollen, die hoch hinaus wollen und die vielleicht ein bisschen blauäugig, aber auf jeden Fall zuversichtlich in die Zukunft blicken. Vielleicht ja auch ein bisschen ermutigend.
Die erste Geschichte, Namensgeber des Buches, führt in ein Sportheim in den Bergen, Anleihen bei Thomas Manns „Zauberberg“ inklusive. Eine Klasse von Bergsteigern steht kurz vor ihrem Abschluss: „Im Sommer würden wir das Heim verlassen. Wir schwiegen, hielten das Geländer fest umschlossen, die Augen auf der vertrauten Straße, die auch uns nach all den Jahren wieder von hier fort führen würde. … Nach und nach überkam uns eine seltsame Unruhe. Bald würden wir getrennte Wege gehen. Wir ahnten, dass wir plötzlich mehr denn je auf uns und unseren Willen zurückgeworfen sein würden.“ Es ist, als ob hier tatsächlich die ganze Hoffnung junger Menschen, bestens vorbereiteter Gipfelstürmer, auf ein Leben voller Herausforderungen und eigener Entscheidungen gebündelt ist – eine Hoffnung, die in den folgenden Erzählungen auf zynische Weise zum Platzen gebracht wird. Die anderen Geschichten erzählen vom kläglichen Scheitern des Wunsches, selbstbestimmt zu leben, von Menschen, die alles richtig machen wollen, die effizient und perfekt sein möchten, dabei aber am Leben und an sich selbst scheitern.
Die Geschichten wimmeln von verschiedenen Namen, verschiedenen Personen, die – ob sie nun Xaver, Vera oder Gerda, Victor, Diana oder Dani heißen – der Leser nur flüchtig kennenlernt, die austauschbar scheinen und die alle an demselben Leiden erkrankt sind: dem Optimierungswahn und dem bedingungslosen Streben nach immer mehr Effizienz und immer besserer Leistung. Wir betreten das Universum einer Shopping Mall mitsamt seiner perversen Verkaufspsychologie, dem Infocenter und der Meinungsbox, den Center-Toiletten mit Vogelzirpen, der Hintergrundmusik, die „als taktgeber zur regulierung der kundenströme“ fungiert. Wir bereiten uns mit Termann akribisch auf seinen Tauchgang vor; absolute Präzision und Perfektion sind in der Tiefe überlebensnotwendig, selbst die Gedanken müssen kontrolliert werden, denn: „Positive Gedanken verbrauchen weniger Energie als negative, das sei ein Fakt, sagt die Wissenschaft, sagt Termann.“
Wir lauschen dem Anruf des Mädchens aus der psychologischen Klinik, das, fast wie in einem Bewusstseinsstrom, einem ehemaligen Mitpatienten von ihrer Einsamkeit erzählt: „Selbst in der eigenen Familie, das sei doch krank, wie sie sich dann selbst nicht mehr ertragen könne, wenn sie das ganze mitspielen würde, und niemals fühle sie sich so verlassen, wie wenn sie mit Menschen zusammen sei, die ihr doch am nächsten sein sollten.“ Der junge Mann am anderen Ende der Leitung interessiert sich weniger für seine Gesprächspartnerin als für die gerade entdeckte Warze an seinem Fuß.
Nur wenige der Geschichten folgen dem normalen Satzbau, Punkte sind spärlich gesetzt. Stattdessen gibt es lange, durch Kommas und Absätze getrennte Bandwurmsätze, die eine Getriebenheit, eine Eile vermitteln; alles muss nur ja schnell gesagt, getan werden, da hat man keine Zeit, auf Zeichensetzung und Großschreibung zu achten: „grundsätzlich lässt sich jeder bewegungsablauf optimieren: um handlungen zu beschleunigen, muss man lediglich schneller gehen, lesen oder reden, pausen oder leerzeichen sind gezielt zu reduzieren, langsame aktivitäten lassen sich durch schnellere ersetzen (pizza-service statt selber kochen), auch simultan lässt sich mit übung einiges erledigen.“ Stellenweise lesen sich die Geschichten wie Sport- Ernährungs- und Psycho-Ratgeber: „mit etwas übung lassen sich leistungsfördernde emotionen im unterbewusstsein verankern und wie auf knopfdruck abrufen. sind sie vor einem auftritt nervös? haben sie versagensängste? dann gehen sie in gedanken eine situation durch, bei der alles geklappt hat. was haben sie gefühlt? wie haben sie sich gefühlt? übertragen sie das sichere gefühl nun von der einen situation auf die andere –“ Und tatsächlich, blickt man in die (erstaundlich lange) Referenzliste, sind dort diverse solcher Ratgeberbücher und Standardwerke der Psychologie aufgelistet – neben Werken von Baudrillard, Heidegger und Goethe.
Der 1976 in Stuttgart geborene Philipp Schönthaler skizziert eine Welt, in der die Menschen versuchen, die Natur, die höchsten Berge und die tiefste See zu bezwingen, ihren eigenen Körper mit Body-Mass-Index und Glyx-Diät und ihren Geist mit autogenem Training und kognitiven Verhaltenstherapien zu kontrollieren. Warum können Markus und Ines ihre Gefühle nur über Post-Its kommunizieren? Welche Spuren hinterlässt man, wenn man einfach so verschwindet? Ist der Felsen schleppende Sisyphus ein glücklicher Mensch, weil er sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt? Viele Fragen werfen die Geschichten auf, beantwortet werden sie nicht.
Die letzte Geschichte handelt wieder vom Bergsteigen, von der Besteigung des Cerro Torre, einem der am schwierigsten zu erklimmenden Gipfel. Die Kletterer harren in ihren kleinen Zelten am Felsen aus, während Regen und Sturm über sie hinwegpeitschen, sie warten – und wissen doch nicht, worauf. Zuversicht und sich erfüllende Träume sucht man in diesen Erzählungen vergebens. Diese zynischen Portraits einer pervertierten Gesellschaft wecken vielmehr den Wunsch, sämtliche Ratgeber an die Wand zu schleudern und einfach mal so unperfekt wie möglich zu sein. In diesem Sinne also doch ein ermutigendes Buch.
Philipp Schönthaler ist im Mai Stipendiat des LCB. Dort liest er am 22.05. zusammen mit den anderen beiden Stipendiatinnen Anna Weidenhölzer und Milenka Michiko Flašar. Der Eintritt ist frei.
- Von Bergsteigern und Tiefseetauchern – Philipp Schönthalers Erzählungen - 17. Mai 2012
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