Zum 11. Welttag der Poesie veranstalteten die Literaturwerkstatt Berlin und die Deutsche UNESCO-Kommission eine Lesung der besonderen Art. Neben Lyrik in deutscher Sprache waren in diesem Jahr auch Stimmen aus Ungarn, Russland, Island und Japan hören. Die Naturkatastrophe in Japan und die Anwesenheit der Dichterin Mariko Nagai gaben dabei mehrfach Anlass zur Frage, ob es angesichts der aktuellen Lage überhaupt in Ordnung sei, sich der Poesie zu widmen. Die Veranstalter waren sich einig: Gerade in schweren Zeiten kann Lyrik Kraft und Orientierung geben, die die Menschen jetzt mehr denn je brauchen. So wurde der Abend den Opfern in Japan gewidmet.
Gleich die erste Lesung stand unter dem Stern des Erdbebens. Die gefasst wirkende Mariko Nagai eröffnete den Abend mit Gedichten von Akiko Yosano (1878-1942). Ausgewählt hatte sie zwei Texte, welche Yosano anlässlich des Erdbebens von Kanto im Jahr 1923 geschrieben hat. Auch damals gab es als direkte Folge eines schweren Erdbebens einen Tsunami, der die bereits dramatische Lage der Bevölkerung Japans verschlimmerte.
Im Anschluss daran trägt Nagai ihre eigenen, oft verstörenden Gedichte vor. Leider auf Englisch, anschließend wird die deutsche Übersetzung vorgetragen. Dabei soll doch auf dem Welttag der Poesie, wie auf der Website der deutschen UNESO-Kommission zu lesen ist, auch „an die Vielfalt des Kulturguts Sprache“ erinnert werden? Als Zuhörer fragt man sich, weshalb die Dichterin den kulturellen Wert ihrer Muttersprache, in deren Genuss man bei der Lesung der Gedichte von Yosano kurz zuvor kommen konnte, nicht verbreitet. Moderator Knut Elstermann klärt diese im Raum stehende Frage auf: Nagai verfasst ihre Gedichte tatsächlich auf Englisch. Schade.
Der tröstende Moment lässt jedoch nicht lange auf sich warten, denn nun schlendert István Kemény aus Budapest lässig auf die Bühne und begeistert die Zuhörer mit ungarischer Wortgewalt. Ohne auch nur ein Wort zu verstehen, kann man bereits bei der Lesung des Originaltexts hören, wie Kemény mit der Sprache spielt. Die deutsche Übersetzung, an der auch die Berliner Dichterin Monika Rinck mitgearbeitet hat, bestätigt den Eindruck. In Keménys bisweilen märchenhaften Gedichten, in denen auch mal gemeine Kobolde auftauchen, geht es immer auch um das Spiel mit der Sprache. So erinnert ein nächstes Gedicht zugleich an eine Studie des Verbs „summen“.
Weiter geht’s mit zwei Autoren, die ebenso wie Kemény im Jahr 2010 Gäste des Berliner Künstlerprogramms des DAAD waren. Dmitri Golynko aus Russland ist ein weiterer dynamischer und kraftvoller Leser an diesem Abend, in dessen Lyrik sich auch der eine oder andere vulgäre Ausdruck oder Elemente von Slang finden. Wenn man sich kurz im Raum umschaut und dort einen Großteil von Menschen mit grauen Haaren ausmacht, fragt man sich kurz, wie das Publikum wohl auf diese Sprache reagieren wird. Doch kein Problem, Golynko kann einige Lacher ernten. Im Anschluss entführt Sjón, der auch als Songwriter und Romancier bekannt ist, mit seiner Lyrik in den Sprachraum Islands.
Der letzte Teil des Abends widmet sich der deutschen Sprache und Poesie. Nora Gomringer verzaubert das Publikum mit einer starken Performance. Gewohnt kunstvoll spielt sie mit der Lautstärke ihrer Stimme, gestikuliert und erhält mit ihrem erfrischenden, lyrischen Singsang die stärkste Publikumsreaktion des Abends.
So steht am Ende der Veranstaltung, während der das Erdbeben in Japan stets in den Köpfen präsent bleibt, gleichzeitig ein wundervolles, babylonisches Stimmen- und Sprachgewirr.
Foto © Juliane Otto
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