Gerhard Falkner ist Lyriker, Dramatiker, Essayist und Übersetzter. Im Januar erschien der erste Teil dieses Interviews, in dem er das schillernde Wesen des Literaturbetriebs diskutiert. In Teil II bietet Falkner einen Blick auf den heutigen Zustand der Literaturkritik im Zusammenspiel mit dem Markt für Literatur.
Litaffin: Man gewinnt den Eindruck, dass die Probleme, die den Literaturbetrieb betreffen, aus dem Mitmachen entstehen – dem Mitmachen der Buchhandlungen, Verlage und der Autoren selbst. Es wächst der Druck, Bestseller zu propagieren, Autoren zu inszenieren. Berufseinsteiger in den Literaturbetrieb arbeiten meist monatelang in schlecht bezahlten Praktika oder Volontariaten. Was ist Ihre Einschätzung der Lage?
Falkner: Die Probleme, die den Literaturbetrieb betreffen, werden geschaffen von allen, die daran prominent beteiligt sind: also den Medien (die sie erzeugen), den Verlagen (die sie erfüllen), den Autoren (die mitwirken), den literarischen Einrichtungen (die bereitwilligst alle fremden Gürtel enger schnallen) und den Buchhandlungen (die das Kraut fett machen). Je mächtiger sie sind, umso einflussreicher schaden sie. Die, die am besten bezahlt werden, sparen in der kürzesten Zeit am meisten ein. Darin folgt man der grausamsten Grundregel des Kapitalismus. Die erfolgreichsten Scharfmacher rekrutiert man wie üblich aus den eigenen Reihen. Sie pflegen das Selbstbild des Managers, können sich unter Kinderarbeit in Indien durchaus etwas Ekliges vorstellen, nicht aber unter der von ihnen völlig enthemmt praktizierten Praktikantensklaverei. Das einzige, was sie sich nicht vorstellen können, ist selbst unbezahlt zu arbeiten. Die Autoren verhalten sich gerade diesen Personen gegenüber, als ob sie nicht denken könnten. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing!
Hinzu kommt: Im Literaturbetrieb gibt es inzwischen ziemlich viele Leute, die sehr einfach gestrickt sind. Mit einfach, sehr einfach, meine ich wirklich einfach, sehr einfach.
Schließlich geht’s da ja um nichts! Es gibt keine Kriterien, es gibt keinerlei Qualitätskontrolle. Weder für die Agierenden, noch für die Agierten. Also wird hingelächelt und zurückgelächelt, als wäre die Kultur, in den Anführungszeichen eines sortenspezifischen Idiotismus, das letzte Land des Lächelns inmitten der real zusammenbrechenden Geistesumstände. Irgendeiner ist irgendwann immer mal dazwischen, der eine verrückte Nummer drauf hat, mit der man zwischendurch etwas Aufmerksamkeit erzielt. Das ist die Hauptsache! So sind beide Seiten urstromhaft beglückt und die Freundschaft bleibt erhalten. Und weil das alles so witzig ist, finde ich Kritik, die nicht witzig ist, äußerst wichtig.
Litaffin: Und wie ist der heutige Zustand der Literaturkritik?
Falkner: Ich habe jetzt zwar nicht von der Literaturkritik gesprochen, sondern von der Kritik an den „vergehenden Verhältnissen“.Aber gut, wir können auch das Thema wechseln.
Es gibt noch immer ausgezeichnete Literaturkritik. Überwiegend im kleinen Stil. Viel davon ist allerdings ins Internet abgewandert. Das liegt daran, dass die, die dort schreiben, über das schreiben, worüber sie schreiben wollen und wissen, dass sie nicht bezahlt werden, es sich also leisten können, so lange zu brauchen, bis sie ihrem Anspruch genüge getan haben und sich gar nicht erst ausrechnen müssen, dass sie davon, egal in welcher Zeit sie ihre Ausführungen zu Ende bringen, keinesfalls ein Auskommen haben könnten.
Die Tätigkeit eignet sich also, wie inzwischen fast alle auf diesem Sektor, nicht für die Gründung einer Familie, sondern nur für die Durchsetzung eines Spleens. Eines der Hauptprobleme der Kritik ist ihr schwindender Boden, der unaufhaltsame Verlust von Publikationsfläche, dann ihre rasend zunehmende Wirkungslosigkeit und ihre rücksichtslose Marginalisierung. Adäquate und erhellende Kritik müsste aber im Geisteszustand der Zeit komplexe Existenzbedingungen finden. Das kulturelle System funktioniert wie ein Ökosystem. Es braucht nicht nur den Vogel, sondern auch den Wurm. Nicht nur die Dichtung, sondern auch die Theorie. Nicht nur Fernsehen, sondern auch Weitsicht.
Litaffin: Was benötigt denn adäquate und erhellende Kritik?
Falkner: Die Kritik müsste deutlich machen, über welche Horizonte sie verfügt. Dazu besitzt oder besäße sie die Mittel des Stils, des Vergleichs, der Einbindung und des Urteils. Wir wollen jedenfalls nicht ständig oder aus einem Teeny-Pop & -Schwummernebel heraus mit der Feststellung belästigt werden, bei dieser australischen oder kanadischen Autorin handle es sich schon wieder um Weltliteratur, weil wir ja schließlich unser „Wieso das denn?“ oder unser „Das kann doch nicht ihr Ernst sein!“ dem Kritiker nicht so lange um die Ohren hauen können, bis der Vernunft annimmt. Es geht auch nicht, dass der Autor schreibt: La marquise de Pompadour etait la maitresse de Louis XV, und der Kritiker übersetzt: Das Sonnendach des Strickbeutels war die Lehrerin des 15. Zuhälters. So nicht unüblich bei Rezensionen von Gedichtbänden!
Wenn der Kritiker einfach deutlich machen würde, auf welcher Strecke und mit welcher Führerscheinklasse er sich in Richtung Urteil bewegt, dann wäre schon viel gewonnen. Wenn jemand in der FAZ über Klaviermusik des 18. Jahrhunderts schreibt, dann kann man davon ausgehen, dass das nicht so ganz schlecht sein wird, denn es bürgt nicht nur der Ort, sondern auch das Thema für eine gewisse Solidität.
Nicht so bei der Literatur. Da besteht eben das allgemeine Missverständnis: Um Literatur beurteilen zu dürfen, muss man weiter nichts als lesen und schreiben können.
Dies aber ist ein Missverständnis par excellence. Der Kritiker muss seinen Verstand außerdem so weit geschärft und abgehärtet haben, dass er, wo nötig, den Unterschied zwischen dem Text des bewunderten oder verachteten Autors, in dessen sprachlichen Gefilden er seine Gedanken entwickelt und der eigenen literarischen Gewandtheit und Bezugnahme erkennt und im gegebenen Falle auch erträgt. Die ideale Kritik besteht meines Erachtens nicht in Lob oder Tadel, das ist in den meisten Fällen eher anmaßend, sondern in der richtigen Einordnung, der Klassifizierung. Der Kritiker sollte mit dem Blick des Kenners erkennen können, wo dieses literarische Exemplar hingehört. Die genaue Beschreibung, die Bestimmung und die Einordnung gibt dem Leser genügend Anhaltspunkte für das eigene Urteil.
Das Gespräch mit Gerhard Falkner wurde bereits am 14. Dezember 2010 geführt.
Foto © A. P. Englert
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