Kürzlich haben hier zehn der LitaffinautorInnen eine lange Liste ihrer Lieblingsbücher zusammengestellt. In loser Reihenfolge werden wir nun einzelne literarische Favoriten vorstellen – leidenschaftliche Plädoyers statt abgewogener Rezensionen, Überzeitliches statt Aktualitätszwang. Den Anfang macht ein moderner Klassiker der Deutschen Literatur, der zuweilen von einem großen Lebenswerk an den Rand gedrängt wird.
Die Frage nach dem Lieblingsbuch stellt vor allem Vielleser vor große Schwierigkeiten. Man erinnert sich an durchlesene Nächte in Kindheit und Jugend, die jede für sich eine neu erblühende Liebe für das eine, dagegen eine erblassende für das andere Buch bedeuten konnte. Die Antwort kann immer nur Momentaufnahme sein. Mag sein, dass sie sich mit zunehmendem Alter irgendwann zumindest für eine längere Zeit Festlegung und Geltung verschafft. Doch jedes neu gelesene oder gar zuweilen wiedergelesene, wiederentdeckte Buch bedeutet Gefahr für die Hierarchie im Bücherregal.
Mein Lieblingsbuch sind die Buddenbrooks, oder nein, es ist: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. Thomas Manns letzter Roman.
Letzter Roman – das sagt sich so leicht. Richtig ist, dass der Stoff Thomas Mann über 40 Jahre beschäftigt hat bis zuletzt 1954 die heute bekannte Fassung erschien, ein Jahr vor dem Tod des Autors. Dennoch ist der Roman Fragment geblieben. Er war unvollendbar, wie Mann eingesteht, und doch ist er vollendet, vollendet in Form, Inhalt und der in deren Zusammenspiel genial-gelungenen Konzeption.
Felix Krull ist ein von der Natur in fast allen Belangen begünstigtes Kind der Belle Epoque, der zudem das an absolute Perfektion grenzende Talent zur Schauspielerei, zur Maske in sich entdeckt, das nichts mit der üblichen Verstellung zu tun hat. Er spielt keine Rollen, er ist. Der glückliche Felix ist ein Künstler und ein Perfektionist, in dem, was er tut. (Wer hier an Thomas Mann denkt, liegt sicherlich nicht daneben.) Er macht die Schauspielerei aber nicht zu seinem bürgerlichen Beruf, dazu ist er viel zu sehr ein Décadent. Sie ist ihm eine Berufung zu Höherem, zur Suche nach dem Glück. Krull sieht für sich nur einen Weg: Die Welt beglücken, damit sie ihn beglückt; die Welt lieben, damit sie ihn liebt. Kurz: Er wird zum Hochstapler – so jedenfalls die bürgerliche, unromantische Variante.
Krull selbst sieht in seiner Hochstapelei nichts Anrüchiges. Im Gegenteil, er gibt der Welt nur, was sie verlangt. Die Welt will betrogen werden. Er tut es. Und wie Felix Krull sie betrügt! Er ist charmant, eloquent, von einer übergeschlechtlichen, ja göttlichen Schönheit und natürlich ist er auch ein unwiderstehlicher Liebhaber. Er überzieht die Welt mit seinem ‚Gefälligkeitszauber’, ohne die Spur eines geäußerten schlechten Gewissens. Dennoch ist er ständig dabei, den Leser von der Ehrenhaftigkeit seines – objektiv betrachtet unmoralischen und strafrechtlich fraglos relevanten – Tuns zu überzeugen. Und der Leser glaubt dies nur allzu gern, denn auch er hat sich in Felix verliebt. Thomas Mann versetzt seinen Helden überhaupt erst in die Lage dazu, indem er ihn einfach seine Lebensgeschichte selber erzählen lässt. Und so darf Krull ungestraft sogenannte Bekenntnisse ablegen, die nichts weniger sind als Bekenntnisse. Sie sind Lobeshymnen auf sich selbst und auf das Leben.
Thomas Mann hat in seinem Hochstaplerroman sein gesamtes literarisches Schaffen resümiert, nicht indem er eine Autobiografie vorlegte, sondern indem er eine fiktive Biografie verfasste, die darstellt, wie sein Leben auch hätte sein können – und doch nie hätte werden dürfen. Felix Krull ist die liebevoll-ironisch-humoristische Abrechnung mit seinem Werk und seinem Leben und nicht zuletzt mit dem Leben an sich. Ja, das Leben ist schön, aber es ist eben auch menschlich. Es hat wie alles seine Schattenseiten, die es gerade erst lebenswert machen, so wie der Mensch erst durch seine Schwächen zum Menschen wird. Die Schwäche: Wir verehren die Schönheit und das reine Leben, wir wollen betrogen sein; und Felix Krull tut uns diesen Gefallen. So haben wir und er von seinem Dasein und Tun profitiert – so würde zumindest er es sehen, aber warum auch nicht?
Der Roman sei sowohl denjenigen empfohlen, die das Werk Thomas Manns noch nicht oder nur fragmentarisch kennen. Für sie bedeutet er ein großes Lesevergnügen. Denjenigen, die Manns Werk gut kennen, seine wiederkehrenden Motive und Themen, die darüber hinaus vielleicht gar eine breite Kenntnis der deutschen und abendländischen Literatur haben (und Felix Krull sträflicherweise dennoch noch nicht kennen), eröffnet sich das Mannsche Themengeflecht von Intertextualität, Mythologie und Philosophie. Und Ironie! Und Humor – die Hochstapler-Bekenntnisse Felix Krulls sind eines der lustigsten Bücher, die ich kenne. Nicht zuletzt deshalb ist es mein Lieblingsbuch. Neben den ganzen anderen, versteht sich.
„Bildung wird nicht in stumpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßiggangs.“ (Th. Mann: Felix Krull)
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„eröffnet sich das Mannsche Themengeflecht von Intertextualität, Mythologie und Philosophie. Und Ironie! Und Humor“
Ich glaube, dieser Satz kann stellvertretend für das gesamte Werk Manns stehen und gerade diese Qualitäten in Verbindung mit Manns virtuoser Jonglage der deutschen Sprache sind es, die ihn für mich so interessant machen.
Ist es eigentlich möglich, in Eurer Reihe hier das eigene Lieblingsbuch -- sofern es niemand von Euch schon gewählt und porträtiert hat -- vorzustellen, gewissermaßen als Gastautor?
Ich freue mich auf weitere Teile dieser Serie!
Viele Grüße
Svenja
Liebe Svenja,
da Du ja praktisch eine Kommilitonin von uns bist, können wir das gerne mal machen. Außerdem magst Du Thomas Mann, damit hast Du mich jedenfalls schon überzeugt. ;)
Worauf dürfen wir uns freuen?
Hallo Dennis!
Das ist super, ich freue mich. Die Entscheidung für ein Buch fällt bekanntlich schwer und ich schwanke zwischen zwei (eher unbekannten) Romanen. Bis wann müsste ich denn „liefern“?
Keine Deadline. Schicke es, wenn Du so weit bist, an die Redaktionsadresse und berufe Dich auf mich. Grüße!
Hallo Dennis,
die Rezension ist abgeschickt.
Na so ein Zufall, habe gerade -- angeregt durch die Buddenbrooks Verfilmung in Kombination mit meinem stets schlechtem Gewissen hinsichtlich meiner Lektüre -- angefangen Felix Krull zu lesen. Scheinbar lohnt es sich ja :)