Am Anfang steht Verlust. Auch in Nino Haratischwilis Roman Juja: „Ich war ein EMBRYO und wusste alles. Ich wurde ins Leben gepresst und vergaß mein Wissen. Ich wurde ins Leben gefickt. Man entnahm mir mein Wissen. Ich will Rache.“ So lauten die ersten Zeilen von Juja; sie gehören Jeanne Saré, einer jungen Frau mit weißer Haut, etwas zu langen Armen und sich abzeichnenden Rippen, mit einem starren Gesicht, das leblose Lippen, eine kleine Nase, hohe Wangenknochen und tiefe, sumpfgrüne Augen unter einer breiten Stirn beherbergt. So sieht ein Mädchen aus, das aufgebrochen war, „um die Welt zu beenden.“ Angeblich. Ein Mädchen, das apokalyptisches Gedankengut in poetischen Zeilen fixiert, aus denen Einsamkeit und Verzweiflung ebenso laut herausschreien wie eine tiefsitzende, unerfüllte Sehnsucht nach – Liebe, Leben? So schreibt ein Mädchen, das ihr Dasein gegen den Tod eintauscht. Angeblich. Jeanne Saré soll in den 1950er Jahren in Paris gelebt haben, bis sie sich im Alter von 17 Jahren am Gare du Nord vor einen Zug warf. Ihre Schriften gelangten knapp 20 Jahre später an die Öffentlichkeit, wo sie 14 Frauen in den Freitod führten. Weil diese sich wiedererkannten in der Weltverlorenheit des jungen Mädchens, um das sich angesichts der wenigen Informationen zu ihrer Person ein Mythos rankte. Und „einen Mythos hinterfragt man nicht. Deswegen ist es ja auch ein Mythos“, so der Verleger von Sarés Texten.
Das ist wohl war. Tut man es dennoch, so wie es eine erfolgreiche Kunstprofessorin und einer ihrer Studenten in Nino Haratischwilis Roman in unserer Gegenwart tun, dann mag einem Unerwartetes begegnen. Im Falle von Juja, dass Jeanne Saré vielleicht nie existiert hat; dass ihre Gedanken, die brennen vor einem Leiden am eigenen Dasein, vielleicht der Mann verfasst hat, der selbige später verlegen sollte.
Juja bedient sich darin an einer Begebenheit, die sich im Kern tatsächlich so ereignet hat: Das Pendant zu Jeanne Saré ist Dannielle Sarréra, der „Mythos des einsamen Mädchens, das die Welt vernichten will und stattdessen sich selbst umbringt“ ist der gleiche. Dass sie sich damit auf fremden Geschichten ausruhen würde, kann man Nino Haratischwili dabei keinesfalls vorwerfen, im Gegenteil. Die Vielschichtigkeit, mit der sich die junge Autorin den Stoff angeeignet hat, beeindruckt: Sie verwebt Kriminalistisches mit Dokumentarischem, springt souverän zwischen Zeitebenen und jongliert gekonnt mit einer Vielzahl an Erzählperspektiven, denen Haratischwili tatsächlich eine gelungene, je eigene Sprachlichkeit eingepflanzt hat. Das verleiht den Figuren, für die allesamt eine tiefgreifende Erfahrung von Verlust bezeichnend ist, Glaubwürdigkeit. „Wir leben im ständigen Verlust, aber mittendrin in diesem andauernden Verlust gibt es das Leben.“ – man wünscht sich, es wäre anders herum.
Und zuweilen wünscht man sich auch, das Pathos in Haratischwilis Text wäre etwas weniger drückend. Doch mag man es ihm nachsehen, weil der Kern des Romans nun einmal ein Mythos ist, den „die Größe und das Pathos“ auszeichnen. Und auch, weil hinter dem pathetischen Ton so aufrichtige Fragen ausgesprochen werden – auch wenn, um noch einen Wunsch zu äußern, den letzten, der Roman insgesamt etwas zu viel ausspricht, was man sich lesend selbst erschließen möchte. Juja fragt nach der Notwendigkeit von Mythen in der Gegenwart; nach Kraft und Bedeutung von „Geschichten“ für das Leben; nach Authentizität oder Wahrhaftigkeit, und was mehr wiegt von beidem. Im gleichen Zug wirft Haratischwilis Roman damit die Frage nach Autorschaft auf und nach dem Zugriff auf einen Text über seine autobiografischen Elemente. Es ist herrlich, wie Nino Haratischwili über die Figur des Ich genau das ironisch pariert: „Ich schreibe, bin weiblich, jung und komme aus einem exotischen Land. Nein, ich bin nicht berühmt und begehrt, wobei all die gerade aufgezählten Charakteristika ja vom Gegenteil berichten sollten; ich bin im Begriff verlassen zu werden, lebe in einem fremden Land und habe eine Art Sinnkrise. Alle Klischees bediene ich schon fast bereitwillig.“
In der Tat könnte man darin die junge Autorin selbst sehen: Haratischwili wurde 1983 in Tiflis geboren, seit 2003 lebt sie in Hamburg. Und berühmt war sie vor Juja ja auch noch nicht. Zumindest nicht für Prosa. Bis dato schrieb die junge Georgierin Theaterstücke, sehr rege und durchaus erfolgreich. Anfang diesen Jahres wurde sie dafür mit dem Chamisso-Förderpeis ausgezeichnet. Juja ist ihr Prosadebüt, erschienen im Verbrecher Verlag, und war nominiert für den Deutschen Buchpreis sowie den Preis der Independent Verlage. Ob der Roman diesen Preis bekommen wird, zeigt sich in den nächsten Tagen. Vorab allerdings sei Folgendes schon einmal gesagt, Preis hin oder her: dass Nino Haratischwili sich nun auch an die Prosa herangewagt hat, ist ein Gewinn, allemal.
Nino Haratischwili: Juja, Verbrecher Verlag, Berlin 2010, 300 Seiten, 24 Euro
- Ein Buch, das niemand geschrieben hat
Nino Haratischwili: Juja - 5. Oktober 2010
Gestern hat Nino Haratischwili „Juja“ in Frankfurt auf der Leseinsel der Jungen Verlage vorgestellt. Sowohl die Autorin als auch die Idee des Buches finde ich wirklich überzeugend, aber mit Haratischwilis Stil (sehr pathetisch, genau wie du sagst) konnte ich mich -- zumindest bei der recht kurzen Lesung -- nicht wirklich anfreunden. Trotzdem: ich werde dem Buch auf jeden Fall eine zweite Chance einräumen.
Ich hab’s endlich geschafft, das Buch zu lesen, und obwohl die Sprache vielleicht zu pathetisch ist, fand ich die Idee wirklich super. Ich war besonders begeistert, eine frische und interessante Interpretation des „unzuverlässigen Erzählers“ darin zu entdecken.