„Angefallen wegen Provokation“
Kai Schlüter: Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte

Vorsicht: Verbrennungsgefahr – Teil 4. Litaffin hat die Vorschläge für die Hotlist gelesen, um vorzukosten, ob da wirklich alles so “hot” gegessen wird, wie es gekocht wird.


Irgendwo auf diesem Bild hat sich ein Nobelpreisträger versteckt.

Wie kleidet man sich, wenn man unter ständiger Beobachtung steht?
oder
Wie einmal ein großer Dichter von einem kleinlichen Geheimdienst bespitzelt wurde

Wenn er dann auf einmal vor einem steht, ist alles gar nicht so aufregend, wie man es sich ausgemalt hatte.
„Herr Grass, wären Sie so nett…?“
Was soll man schon sagen? Zumal der Nobelpreisträger, der als geduldiger Autogrammschreiber gilt, die lange Reihe der Unterschriftensammler schon abgearbeitet glaubte.
Es war ein gelungener Abend in Leipzig. Der Alte Rathaussaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Und dieser war wie immer natürlich in der ersten Reihe, von wo aus man aber wenig überraschend auch den besten Blick hatte auf ihn, der hier heute im Rahmen der Buchmesse sein neues Buch vorstellte. Wobei, eigentlich ist das Buch gar nicht von ihm, sondern vom Journalisten Kai Schlüter. Streng genommen stammt die Idee dazu sogar von jemand noch ganz anderem, nämlich aus der Zentrale der Staatssicherheit der DDR, und ist etwa 50 Jahre alt. Dort kam man nämlich darauf, den in Westdeutschland – und mit Die Blechtrommel auch in der ganzen Welt – berühmt gewordenen Schriftsteller Günter Grass unter Beobachtung zu nehmen.
Grass, der den Mauerbau 1961 öffentlich kritisiert hatte, besuchte wiederholt die DDR und traf dort Kollegen, organisierte Zusammenkünfte und tat ähnlich verdächtig engagierte Dinge. Daraufhin fühlte sich die Stasi ihrer Bestimmung gemäß bemüßigt einzugreifen. Sie bespitzelte den Mann und seine Ost-Kontakte und stieß dabei auf – nunja, praktisch nichts, was den Aufwand – in ihrem Sinne – „wert“ gewesen wäre. Doch diese Kategorie ist in einem seine Daseinsberechtigung aus sich selbst heraus generierenden Geheimdienst nicht vorgesehen. Und so kann man den Schlapphüten zumindest heute dafür danken, ihren Teil zur deutsch-deutschen Geschichte und nicht zuletzt auch zur Literaturgeschichte beigesteuert zu haben.
Ernsthaft dankbar indes sollte man in der Tat Kai Schlüter sein, der den lange unwilligen Grass überreden konnte, seine Stasiakten nicht nur der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sondern sogar selber einen Blick hineinzuwerfen.
Schlüters im Ch. Links Verlag erschienenes Buch Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte fasst journalistisch gekonnt und sogar unterhaltsam das zusammen, was 2200 Seiten Akten zutage gefördert haben. Ausgewählte Einträge sind dabei ebenso nachzulesen wie Auszüge aus Schriftwechseln, Zeitungsartikeln oder Reden. Dazu lässt Schlüter den bespitzelten Grass und etliche Autorenkollegen immer wieder mit aktuellen Kommentaren zu den historischen Vorgängen zu Wort kommen. Das sorgt für eine abwechslungsreiche, informative Lektüre, woran durchaus auch die teilweise kruden Akteneinträge ihren Anteil haben. Besonders deutlich wird dabei vor allem die ungewollt beinahe selbstparodistische Lächerlichkeit der Stasisprache und die Angewohnheit, Banalem subversive Bedeutsamkeit anzu- , ja, -dichten. Daraus ergibt sich eine ganz eigene Art der Poesie, die flugs zwischen Beklemmung und dem erleichterndem Amüsement darüber changiert, dass der hier „wegen Provokation angefallene“ Dichter ja offenbar nicht alles falsch gemacht hat: „Grass und seine Ehefrau waren im Beobachtungszeitraum sauber und ordentlich gekleidet.“ Immerhin!

Leider wird dieses Buch im Rahmen der Hotlist keinerlei Chance haben, in den engeren Kreis aufgenommen zu werden. Zu uncool sind einfach die Themen: die Stasi sowieso, aber auch der alternde Nobelpreisfuzzi, der nicht müde wird, seinen jüngeren Kollegen ihre politische Schweigsamkeit vorzuhalten, was er unglücklicherweise immer dann tut, wenn er mal wieder ein eigenes Buch veröffentlicht. An seiner literarischen Lebensleistung ändert das allerdings nichts – und noch weniger an der Tatsache, dass Kai Schlüter ein äußerst lesenswertes Buch gelungen ist, das man sich nun nicht allein vom Autor, sondern zusätzlich sogar noch von einem Nobelpreisträger signieren lassen kann.

Kai Schlüter: Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte, Ch. Links Verlag, Berlin 2010, 384 Seiten, 24,90 Euro

1 Kommentar zu „„Angefallen wegen Provokation“<br>Kai Schlüter: <em>Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte</em>“

  1. Echt witzig, dass wir hier, von denen man sich wohl jugendlichen Entdeckergeist erwartet, ständig die alten Haudegen hoch halten: du Grass, ich Walser und Ranicki.
    Aber ehrlich trifft.
    Und anders überrascht keinen mehr.

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