Jüngst veröffentlichte Martin Walser ein neues Tagebuch. Der Text handelt genretypisch von ihm und wie er am Literaturbetrieb leidet – ein bei Autoren erstaunlich beliebtes Thema. Auch Thomas Glavinic schrieb schon eine Nabelschau. Wie geht es dem Leser dabei?
Thomas Glavinic befürchtet eine Krankheit an seinem Hoden. Martin Walser hat Bauchschmerzen. Glavinic traut sich nicht, sein Geschlechtsteil zu betrachten. Walser lässt seiner Romanfigur das Glied abschneiden und es dessen Ehefrau überreichen. Walser braucht Geld, Glavinic möchte mehr Geld. Glavinic kennt Daniel Kehlmann und Jonathan Safran Foer. Walser kennt Max Frisch, Siegfried Unseld, Uwe Timm, Hellmuth Karasek, Jürgen Habermas, Peter Weiß und die halbe Welt. Bei beiden Schriftstellern handelt es sich um die allerschlimmste Form des Name-Droppings, der schlechten Eigenschaft, bei jeder Gelegenheit Promi-Namen – wie selbstverständlich bekannt – im Gespräch fallen zu lassen. Die schlimmste Form, da beide gerne einfach nur die Vornamen der bekannten Bekannten nennen.
Glavinic und Walser leiden, sie leiden am Literaturbetrieb, an den Paratexten, an der scheinbaren Ignoranz, die ihren Texten entgegengebracht wird. Und sie veröffentlichen ihr gesammeltes Selbstmitleid: Glavinic als Roman und Walser, etwas ehrlicher seinen Lesern gegenüber, als Tagebücher. Beide sind zu diesem Zeitpunkt schon gemachte und bewiesene Autoren, stehen aber noch vor ihrem größten Erfolg. Glavinic beschreibt das Jahr 2006, in dem sein Roman „Die Arbeit der Nacht“ erscheint, und Walser die Jahre 1974 bis 1978. Die Aufzeichnungen enden damit kurz vor Erscheinen der einzigartigen Novelle „Ein fliehendes Pferd“. Die Schriftsteller warten auf Verkaufszahlen, Kritiken und Geld. Dabei besuchen sie die anderen Akteure des literarischen Feldes. Sie gehen auf Lesungen, in Restaurants und sitzen in Jurys, telefonieren mit Agenten, Verlegern und Kollegen.
Trotz allem Bauchweh sind diese beiden Bücher mehr als nur das reine Wundenlecken verkannter Genies. Dafür liest sich Glavinics „Das bin doch ich“ einen Tick zu unterhaltsam und Walsers Tagebuch einen Tacken zu menschlich-sympathisch.
Walser leidet unter Marcel Reich-Ranicki. Lange nach diesen Tagebuchaufzeichnungen wird Walser das Thema immer noch nicht losgelassen haben und es wird einen Skandal um Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ geben, in dem eine dem Literaturkritiker Ranicki zum Verwechseln ähnliche Figur – erst und dann doch nicht – ermordet wird.
Diese Trotzreaktion Walsers ist durchaus verständlich. Reich-Ranicki veriss seinen Roman „Jenseits der Liebe“ ungewöhnlich taktlos. Walser befände sich „jenseits der Literatur“ und keine einzige Seite des Buches sei lesenswert: „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman.“ Im Tagebuch, das nun erst erschienen ist, wird nachfühlbar, wie sehr Walser dieser Ausschluss aus der Literatur schmerzte. Bezeichnenderweise betitelte er die privaten Notizen mit „Leben und Schreiben“. Der Text trägt Züge des Verfolgungswahns (weil niemand die Kritik verhindert habe), aber Walser leidet auch physisch. Er versuche, sich gesund zu leiden, wie er Jahre später charmant zugibt. Und er träumt davon, Ranicki zu ohrfeigen.
Im Gegensatz zu Walser beweist Glavinic eine ganze Menge Selbstironie. Seine Figur ist komisch gezeichnet und leidet an den Erfolgen des befreundeten Autors Daniel Kehlmann, der refrainartig seine Verkaufszahlen des Bestsellers „Die Vermessung der Welt“ per SMS durchgibt. Glavinic agiert oft trotzig: „Wer meine Bücher ablehnt, ist des Teufels!“ und bis ins Groteske selbstverliebt: „Jemand schreibt in der Süddeutschen, Daniel sei der beste Autor seiner Generation. Ich zucke zusammen. Das bin doch ich!“ Dies erinnert dann stark an Walser, der sich innerlich aufregt, dass nach dem Erscheinen des verhängnisvollen Verrisses Menschen sich in seiner Gegenwart auch über anderes unterhalten.
Beiden Autoren scheinen ab und an zu vergessen, dass nicht alle Leser mit den Strukturen des deutschsprachigen Literaturbetriebs vertraut sind und daher nicht alle Ironie, nicht jede Verlegerikone erkennen. Die beeindruckendeste, um nicht zu sagen nützlichste Art einer Literaturbetriebssatire, denn als solche können beide Titel verstanden werden, stammt daher von einem dritten Autor: Walter Moers. Ausgerechnet der Schöpfer des Kleinen Arschlochs und des umwerfenden Lügenbäres Käpt’n Blaubär bewies mit „Die Stadt der träumenden Bücher“, dass es auch anders geht. Moers erschafft die Welt Buchhain, in der alles aus Büchern ist und jeder liest. In dieser Welt gibt es natürlich auch Kritiker: die Büchernörgeler. Den Buchlingen sagt man nach, sie würden Literatur essen. Und wer möchte, kann hinter den Stadtbewohnern Ohjann Golgo van Fontheweg, Perla La Gadeon, Orca de Wils und T. T. Kreischwurst Johann Wolfgang von Goethe, Edgar Allan Poe, Oscar Wilde und Kurt Schwitters erkennen. Aber ohne das funktioniert der Spaß auch. Ganz große Kunst eben.
Martin Walser, Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978, Rowohlt, 2010
Thomas Glavinic, Das bin doch ich, Hanser, 2007
Walter Moers, Die Stadt der träumenden Bücher, Piper, 2004
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Sehr schöner Artikel. Besonders gefällt mir Moers Anlehnung an Michael Ende. Der hatte nämlich in seinem „satanachäolügenialkohöllischen Wunschpunsch“ schon einen kleinen Gnom mit dem Namen „Büchernörgeli“ vorgestellt und mit einer Zeichnung ergänzt, die Herrn Reich-Ranicki verteufelt ähnlich sah. Auch bei Ende ist das Büchernörgeli „ein besonders scheußliches kleines Monster, im Volksmund auch Klugscheißerchen oder Korinthenkackerli genannt.“ Das ist mir bei weitem die liebere Form der Literaturbetriebskritik von Autorenseite. Da hat man auch als Leser mehr von als nur gen Himmel rollende Augen und betretene Fremdscham. Außerdem hat es sogar was pädagogisches. Ich persönlich kannte das Büchernögeli lange bevor ich Reich-Ranicki kannte. Führte zu einem wunderschönen Moment, als ich zum ersten Mal das Literarische Quartett sah: Ui, das Büchernörgeli!