Am 16. März ist Indiebookday, der Feiertag des unabhängigen Verlegens. Wie ihr mitmachen könnt? Ganz einfach: Geht in eine Buchhandlung eures Vertrauens und kauft ein Buch aus einem Indie-Verlag. Zur Inspiration hat unsere Redaktion ihre liebsten Buchempfehlungen zusammengetragen.
Harriet Finn empfiehlt: »Bible Bad Ass« von Edith Löhle
„Ich kann gar nicht so viele Hostien essen, wie ich kotzen will“, ist Klaras Einstellung zur Kirche und ihre Meinung zu dieser Institution bleibt den gesamten Roman hindurch kritisch. Doch im Laufe des Romans nähert sich die Protagonistin dem Thema Religion und Spiritualität in Verbindung mit Weiblichkeit und der Stellung der Frau in der Kirche an. Klara arbeitet für ein Magazin und schreibt dafür einen Bericht über eine queere Pfarrerin, die auf Instagram und in der Kirche für Frauenrechte kämpft. Kurz nachdem sie mit der Arbeit an dem Artikel beginnt, wird Klara einer Whatsapp-Gruppe mit unbekannten Nummern hinzugefügt. Schnell merkt sie, dass es sich bei den anderen Gruppenmitgliedern um Frauen aus der Bibel handelt, die den Chat nutzen, um Klara ihre Geschichten zu erzählen, die „aus der Bibel gestrichen, absichtlich und unabsichtlich falsch überliefert, übersetzt [..] oder kleingehalten“, um sie so in die heutige Zeit zu holen.
Die Idee der Geschichte ist einfallsreich, doch leider nimmt der Roman sich etwas zu viel vor. Die Autorin Edith Löhle bringt ungefähr jedes feministische Thema, das aktuell besprochen wird, in ihrem Roman unter. Und man merkt, dass Löhle, die mit Bible Bad Ass ihren ersten Roman geschrieben hat, aus dem Lifestyle-Journalismus kommt. Ihr Schreibstil ist sehr locker, birst über vor popkulturellen Referenzen und fast jeder Satz, den die Protagonistin denkt, könnte auch ein Statement unter einem Instagram-Post sein – für einen kürzen Artikel bestimmt unterhaltsam, für einen ganzen Roman etwas zu viel. Doch teilweise steigt die Autorin tiefer in die besprochenen Themen ein, zitiert Bibelstellen und lässt diese durch die weiblichen Bibelfiguren selbst interpretieren und erklären. Das sind die spannendsten Stellen des Romans, weil dort erklärt wird, wie „die Kirchenväter“ Jahrhunderte und Jahrtausende lang die Bibel ausgelegt haben und damit die Stellung der Frau begründet haben. Die Protagonistin lernt im Verlauf der Geschichte, wie diese Rollenbilder uns bis heute beeinflussen und wie anders sie sein könnten.
Trotzdem ist Bible Bad Ass insgesamt ein unterhaltsamer Text zu einem Thema, mit dem man sonst wenig Kontakt hat. Man merkt, dass Löhle für ihren Roman viel recherchiert hat und kann einige spannende Fakten daraus mitnehmen. Und das Buch sieht einfach toll aus! Vorsatz und Farbschnitt zeigen ein Gemälde mit biblischen Motiven, was neben dem zweifarbigen und modern und schlicht gehaltenen Cover ein toller Kontrast ist und gut den Spagat zwischen Bibelinhalten und Popkultur, den der Roman schlägt, widerspiegelt.
Edith Löhle: Bible Bad Ass. Erschienen 2024 bei Leykam, 282 Seiten.
Eva Bensberg empfiehlt: »Mild Vertigo« von Mieko Kanai
Mieko Kanai gibt Einblicke in das Leben einer japanischen Hausfrau. In dem Text, der einem Bewusstseinsstrom ähnelt, werden oft mehrere Geschichten in einem Satz gleichzeitig erzählt. Damit versetzt Kanai ihre Leser:innen in einen leichten Schwindelzustand, dem Mild Vertigo, und reproduziert damit die Gedanken einer Person, welche immer an alles denken muss.
Zwischen Geschichten über ihre Nachbarn (mal lustig, mal zynisch), ihren (wie sie selbst nüchtern feststellt) eher durchschnittlichen Kindern, und ihrem Leben vor der Ehe kommt langsam eine Frau zum Vorschein die viel facettenreicher ist, als die Gesellschaft sie sieht.
Obwohl Kanai Mild Vertigo schon in den 90ern geschrieben hat, spiegelt es immer noch erschreckend realistisch den monotonen sowie anstrengenden Alltag vieler Frauen wider, welche sich nebenbei auch immer wieder der Frage stellen müssen, ob sie auch wirklich genug aus ihrem Leben machen. Wahrscheinlich ist dies einer der vielen Gründe, warum sich Fitzcarraldo Editionen entschlossen hat dieses Werk der japanischen Kult Autorin endlich auch der englischsprachigen Leserschaft zugänglich zu machen. (Auf Deutsch ist es leider noch nicht erschienen.)
Mieko Kanai: Mild Vertigo. Erschienen 2023 bei Fitzcarraldo, 169 Seiten.
Lilli Anlauf empfiehlt: »Über die Berechnung des Rauminhalts I« von Solvej Balle
Es ist der 18. November: Tara, eine Buchhändlerin, ist auf der Suche nach antiquarischen Schätzen in Paris – sie kauft verschiedene Bücher, trifft einen alten Freund wieder, verbringt einen schönen Abend mit ihm und seiner Freundin, außer, dass sie ihre Hand am Ofen verbrennt. Nicht schlimm, morgen geht es ja schon wieder nach Hause zu ihrem Mann Thomas. Doch am Morgen des – für sie – 19. Novembers ist etwas komisch. Hat die Person im Frühstückssaal des Hotels nicht gestern ganz genauso das Stück Brot auf den Boden fallen lassen?
Die Ich-Erzählerin in Solvej Balles Über die Berechnung des Rauminhalts I stellt fest, dass die Zeit stillzustehen scheint. Für alle, außer sie selbst. Immer wieder beginnt ein Tag und immer wieder ist es der 18. November. Sie spricht mit ihrem Mann Thomas darüber, muss es ihm an jedem neuen 18. November wieder erklären. Schließlich entscheidet sie sich zurückzuziehen, schläft im Gästezimmer, bleibt vor Thomas verborgen. Im Buch folgen wir Taras Aufzeichnungen, die sie jeweils mit der Zahl der sich wiederholenden Tage – #121, #224, #281 – überschreibt. Die alte „Und täglich grüßt das Murmeltier“-Idee, wird keinesfalls platt, sondern klug, poetisch und melancholisch in Szene gesetzt. Sprachlich findet man statt Panik vielmehr Ruhe, Präzision und Klarheit. Die analysierende, suchende Protagonistin bewegt sich durch die Zeit, während alles andere in Wiederholungen gefangen zu sein scheint und gewöhnt sich an die immer wiederkehrenden Geräusche, Handlungen, Routinen. Zwischen Gelassenheit und Verzweiflung kann man den Gefühlen und Überlegungen von Tara folgen, und trotz der ruhigen Erzählstruktur durchzieht den Text eine umfassende Spannung, die nie ganz verschwindet.
Insgesamt ein einzigartiges Werk in großartiger Übersetzung von Peter Urban-Halle, das in ein groß angelegtes Romanprojekt der Autorin einführt und sich zwar von der Wirklichkeit entfernt, sie uns aber dadurch umso stärker vor Augen führt.
Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts I (aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle). Erschienen 2023 bei Matthes & Seitz Berlin, 170 Seiten.
Mira Nagel empfiehlt: »Eine moderne Familie« von Helga Flatland
„Alles löst sich auf wie der Pullover, den Mama mir vor Jahren gestrickt hat, ausgehend von einem Loch ganz unten am Rücken, das einfach wuchs und größer wurde, je mehr ich versuchte, die losen Fäden sicher zu verknoten.“
Sverre und Torill, siebzig Jahre alt, entschließen, sich scheiden zu lassen. Eine Entscheidung, die den drei erwachsenen Kindern Liv, Ellen und Håkon so überraschend wie katastrophal erscheint. Ausgehend davon erzählt der Roman der norwegischen Schriftstellerin Helga Flatland von den Mustern, Rollen und Ungeheuerlichkeiten einer Familie, deren Kitt – zumindest vordergründig – die nicht besonders erfüllte, aber beständige Ehe der Eltern zu sein scheint.
„Ich habe das Bedürfnis, dieses Gefühl in Worte zu fassen, daß ich gerade durch so etwas wie ein Museum meiner eigenen Kindheit gelaufen bin, eine Ausstellung des Verlorenen. Oder vielleicht durch die Kulissen eines Theaterstücks über eine Familie, meine Familie, etwas, das es ursprünglich nicht gab.“
So beginnt Liv ihre eigene Ehe auf den Prüfstand zu stellen, Ellen hadert mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch, Håkon droht an seinen Prinzipien zu zerbrechen, als er sich allem zum Trotz, Hals über Kopf verliebt.
Aus den unterschiedlichen Perspektiven der drei Kinder erzählt, entfaltet der Roman ein Spannungsfeld, in dem Fragen von Emanzipation, Abgrenzung und Erwachsenwerden so eindrücklich verhandelt werden, dass der Text einen nur schwer wieder loslässt.
Helga Flatland: Eine moderne Familie (aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger). Erschienen 2019 bei Weidle Verlag, 308 Seiten.
Hannah-Lou Multhaup empfiehlt: »Unser Deutschlandmärchen« von Dinçer Güçyeter
Wie das Stöbern durch eine alte Schachtel mit Fotografien, Gedichten, Briefen, einer Auflistung aller Habseligkeiten fühlt sich Dinçer Güçyeters Romandebüt Unser Deutschlandmärchen an. Güçyeter erzählt darin die Geschichte seiner Familie, die wie so viele andere Familien in den 1960er-Jahren als sogenannte Gastarbeiter*innen nach Deutschland kamen und dafür ihre anatolische Heimat verließen. Neben dem Erzähler Dinçer, deren Geburt wir im Roman aus seiner Embryo-Perspektive miterleben dürfen, kommen vor allem die Frauen der Familie zu Wort: Die Urgroßmutter, die Großmutter und Dinçers Mutter Fatma. Insbesondere Mutter und Sohn scheinen in ihren Kapiteln eine Art Dialog miteinander zu führen, während Dinçer sich mit einem „Du“ an seine Mutter richtet, spricht Fatma im „Ihr“ zu ihren beiden Söhnen. Es ist gerade diese Erzählweise, die den Text zu einem sehr persönlichen Zeugnis macht, man hat geradezu das Gefühl, am Küchentisch mit Fatma und Dinçer zu sitzen und ihnen bei einem Gespräch über die Vergangenheit zu zuhören. Neben den Dialogen und Monologen von Mutter und Sohn findet Güçyeter weitere Textformen, um Erfahrungen wie Heimatverlust, Rassismus und Neuanfänge einzufangen. Der Roman ist eine wahrhaftige Collage, bestehend aus Gedichten quer über die Buchseiten geschrieben, Briefen, Gebeten und Chören. Güçyeter schert sich dabei nicht um Genrefragen, sondern sucht und findet seine eigene Sprache, eine poetische offensichtlich, die trotzdem einen klaren, ehrlichen und teils harten Ton beibehält. Was am Ende von Güçyeters Märchen, wie er es nennt, übrig bleibt, sind nicht nur die Geschichten seiner Figuren, sondern vor allem die Gefühle, Hoffnungen und Träume all jener Menschen, die ihre Heimat einst verließen, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Letztendlich ist es auch eine Versöhnung Güçyeters mit seiner Vergangenheit, so klingen jedenfalls Fatmas letzte Worte an, die sie an ihre Leserschaft richtet:
„Fatma ist mein Name, die Gastarbeiterin, die Akkordbrecherin. Alles, was bei mir keine Sprache fand, soll auf euren Zungen die Seiten aufschlagen […] Wir haben blind danach gestrebt, den Schmerz der Entwurzelung mit Eigentum, mit Geld zu heilen, vergebens…Ihr sollt besser leben, freier, ohne Ängste. Jede Last, jeder Schmerz ist vergänglich, traut euch, habt keine Angst vor dem Leben.“
Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen. Erschienen 2023 bei mikrotext, 216 Seiten.
Emma Rotermund empfiehlt: »Strega« von Johanne Lykke Holm
Neun junge Frauen, die in einem abgeschiedenen Hotel als Saisonkräfte arbeiten: Sie alle wurden von ihren Eltern dorthin geschickt, um nützliche Mitglieder der Gesellschaft, oder besser: gute Frauen zu werden – woran sie selbst kein Interesse haben. Die strengen Aufseherinnen weisen die Mädchen in ihre Arbeit ein, die sie routiniert Tag für Tag erledigen. Sie bereiten das Hotel auf Gäste vor: putzen, Tische decken, im Kräutergarten arbeiten. Aber nie kommt jemand.
Die Mädchen werden in ihrem abgeschlossenen Kosmos zu einer Einheit, wenn eine gegen eine Regel verstößt, werden alle bestraft. Ihre Körper verschmelzen, es herrscht eine Solidarität und Schwesterlichkeit unter ihnen. Besonders mit Alba erlebt Rafa, die Protagonistin, eine enge Verbundenheit.
Rafa lebt in dem ständigen Bewusstsein, dass sie durch patriarchale Gewalt bedroht ist, dass diese erwartbar und sogar unumgänglich ist: „Ich wusste, dass sich das Leben einer Frau jederzeit in einen Tatort verwandeln konnte. Ich hatte noch nicht begriffen, dass ich bereits in diesem Tatort lebte, dass der Tatort nicht das Bett war, sondern der Körper, dass das Verbrechen bereits stattgefunden hatte.“ Als eines Abends eins der Mädchen verschwindet, ist sie kaum überrascht.
Eine mystische, bedrohliche Stimmung durchzieht den Roman: Als „Gruselkabinett“ wird der Ort beschrieben, als „ermordete Frau und ihre Besitztümer“. Rafa sieht ständig und überall den Tod. In jedem Mann sieht sie ihren potenziellen Mörder. Wie Dorothee Elmiger in ihrem Nachwort schreibt: „Das Schlimmste steht ihr immer noch bevor; das Schlimmste hat sich immer schon ereignet, weil sie es bereits gedacht, weil sie es bereits gesehen hat.“
Strega ist eine surreale Coming-of-Age-Geschichte. Es geht um die permanente Anwesenheit des männlichen Blicks und dessen Auswirkungen auf junge Frauen, um die begründete Angst vor männlicher Gewalt, aber auch um weiblichen Zusammenhalt und das Zurückerlangen einer Selbstbestimmung.
Johanne Lykke Holm: Strega (aus dem Schwedischen von Hanna Granz). Erschienen 2022 bei aki Verlag, 192 Seiten.
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