Von auszuhaltenden Widersprüchen im politischen Kampf und der damit einhergehenden Notwendigkeit, auf ein gemeinsames Wir zu vertrauen. Anna Yeliz Schentke erzählt in ihrem großartigen Debütroman Kangal die Geschichte eines Aufbruchs aus Furcht und einer Rückkehr aus Überzeugung.
Eine Rezension von Friederike
Schentkes Roman ist ein kämpferisches Buch, mit großer Strahlkraft und Eindringlichkeit. | © Frederik Schürmann
Wer oder was ist ein Kangal? Das dürfte im deutschsprachigen Raum eher in die Kategorie Nischenwissen fallen. Auch der Name Anna Yeliz Schentke ist bis dato vermutlich wenigen Menschen ein Begriff. Beide Mysterien lichten sich nun, da im S. Fischer Verlag Schentkes Debütroman mit besagtem Titel Kangal erschienen ist. Ein schmales Büchlein, das große Konzentration, mehrmaliges Lesen oder schlicht beides erfordert. Doch der Reihe nach.
Schentke, 1990 in Frankfurt am Main geboren und noch immer dort lebend, hat Literaturwissenschaft und Ästhetik studiert, bevor sie 2020 einen Platz im Literaturzweig der Jürgen-Ponto-Stiftung erhielt. 2022 war sie Gründungsmitglied des PEN Berlin. Ein relativ kurzer, aber wirkungsvoller Weg.
„Wenn wir ausschließlich dafür, dass wir nicht einverstanden sind, festgenommen werden können, dann müssen gerade wir das tun. Irgendwann sind die Gefängnisse voll. Wir sind doch mehr.“
Kurz und wirkungsvoll – genau so lässt sich auch ihr Debüt Kangal beschreiben. Darin erzählt Schentke die Geschichte einer Flucht: Dilek macht sich von Istanbul aus auf den Weg nach Frankfurt, da sie wegen regimekritischer Onlineaktivitäten staatliche Repression fürchtet. Es gibt zwei weitere zentrale Figuren, nämlich Dileks Partner Tekin, den sie in Istanbul zurückgelassen hat, und ihre Cousine Ayla in Frankfurt. Die Handlung spielt in der Zeit nach den Gezi-Protesten 2013 und dem Putschversuch von 2016, der einen massiven Bruch in der türkischen Gesellschaft zur Folge hatte. Gegen die vermeintlichen Putschist:innen gerichtete Maßnahmen sind dabei vor allem eins: Mittel und Wege Erdoğans Macht zu sichern und Kritiker:innen einzuschüchtern. So gibt es im Roman einen omnipräsenten Antagonisten, er ist „der, der keinen Namen braucht“, „Ismi lazım değil“. Erdoğan selbst wird kein einziges Mal beim Namen genannt.
Die Wirkmächtigkeit der autokratischen Regierung ist im Roman allgegenwärtig und reicht tief hinein in die zwischenmenschlichen Beziehungen. Wie die politische Verfolgung Freundschaften oder Familienverhältnisse beeinflusst – das ist es, was Schentke zeigen möchte. Und es gelingt ihr auf beeindruckende Weise.
Keine Einzelkämpferin und trotzdem zwischen den Stühlen
Doch noch einmal zurück zu Namen und Nischenwissen. Kangal1210 ist das Online-Pseudonym von Dilek. Ein Kangal ist ein türkischer Hütehund, dessen Wesen als loyal, eigenständig und genügsam beschrieben wird. Ein Kangal beschützt seine Herde gegen angreifende Wölfe. Trotzdem führt dieses Bild, Dilek als Kangal, auf eine falsche Fährte. Denn die Lesart der Einzelkämpferin, die sich um ihre Herde sorgt, wird durch die Rahmenhandlung, Dileks Flucht, ad absurdum geführt. Ihre Entscheidung ist der Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Wie genau sie zu diesem Entschluss gekommen ist, bleibt eine erzählerische Leerstelle.
Die zentrale Frage des Romans – wie die akute Bedrohung der türkischen Zivilgesellschaft zu bewerten ist – wird nach und nach aus den Perspektiven von Tekin und Ayla betrachtet. Schentke etabliert dafür zwei sich gegenüberstehende Gruppen: zum einen die türkischstämmigen Menschen in Deutschland rund um Ayla, zum anderen junge Menschen in Istanbul rund um Tekin. Zwischen beiden wandelt Dilek als Grenzgängerin
„Nur weil wir eine Sprache sprechen, haben wir noch nichts gemeinsam. Nur weil wir aus einem Land kommen, haben wir noch nichts gemeinsam. Ich habe keine Angst vor Halim, aber ich bin wachsam. Mein Kopf isst mich.“
Durch die wechselnden Stimmen eröffnen sich zahlreiche Blickwinkel auf die Situation. Jede Person vertritt programmatisch eine Position. Dass diese Figurenzeichnung nie ins klischeehafte kippt, ist dem minimalistischen Stil zu verdanken, mit dem die Autorin es fertigbringt, durch eine kurze Aussage oder ein winziges Detail die Komplexität der Figuren durchschimmern zu lassen. So zum Beispiel Ayla, die sich eingesteht: “Was sie sagte, versetzte mir einen Stich. Aber sie zwang mich auch, auf Fragen zu antworten, die ich mir selbst nicht stellen wollte.“
Dilek selbst steht zwischen allen Stühlen – und unter wahnsinnigem Druck. Sie ist getrieben und verunsichert, in permanenter Habacht-Stellung. „Was, wäre wenn…?“ ist ihr häufigster Gedanke. Was wäre, wenn die Menschen, denen sie in Deutschland begegnet, Anhänger:innen von „Ismi lazım değil“, dem Namenlosen, sind? Kurz überlegt sie, eine Person im Supermarkt anzusprechen, sie kommt ihr bekannt vor, aber nein: „Könnte sie mich kennen? Wer sind ihre Eltern? Vielleicht haben sie Einfluss? Wer sind ihre Freunde? Vielleicht braucht sie keinen Einfluss, vielleicht hat sie die App und meldet mich an den türkischen Staat.“
Das ist schwer zu ertragen. Auch stilistisch zieht sich diese Unruhe durch den Roman. Die Sätze sind knapp und atemlos, durch sehr kurze Szenen und Dialoge entsteht eine Intensität, die sich schonungslos auf das Lesepublikum überträgt und Beklemmung auslöst. Als Leser:in fühlt man sich beinahe ebenso getrieben und verunsichert wie die Protagonistin. Hat man nicht doch etwas übersehen, überlesen, nicht richtig durchdacht?
Wie konstituiert sich ein „Wir“?
Bald ist Dilek auf ihrer hilflosen Suche nach Halt an einem Punkt angelangt, an dem sie allen misstraut. Ihrer entfremdeten Familie in Deutschland, aber auch Teilen ihres Kreises in Istanbul. Wer hat recht? Auf wen kann sie sich noch verlassen? Diese Furcht ist begründet, sie kann weder vor noch zurück. In Deutschland ist sie in die Ecke getrieben, denn „[v]on den Deutschen, die einen türkischen Pass haben und zur Wahl gegangen sind, haben 63 Prozent für Ismi lazım değil gestimmt. […] Das sind die Leute, wegen denen ich gehen musste“. Aber in die Türkei kann sie nicht zurück. Es hat wieder mit Namen zu tun: „die Namen derer, die nicht mehr hier [in der Türkei] sind, [können] genannt werden. Wer nicht mehr im Land ist, ist in Sicherheit.“
Der Roman wirft hier auch eine wichtige Frage der Zugehörigkeit auf. Entlang welcher Linien entsteht ein „Wir“? Wie viel zählen die Familie, die Herkunft, die Freund:innenschaften? Und wie wird das „Wir“ vom gesellschaftlichen Umfeld geprägt? Auch innerhalb der Istanbuler Gruppe gibt es verschiedene Ansichten bezüglich der Gefahrenlage und entsprechend mehr oder weniger Verständnis für Dileks Flucht. Sie sagt selbst: „[d]ie Gefahren sind real und unreal zugleich“
Wir müssen es alle gemeinsam machen
Sehr real sind die vielen kleinen Details und Situationen – besonders eindrucksvoll ist die Rolle des Monobloc-Stuhls, der sich auch auf dem Cover befindet – die dieses Buch zu einer fesselnden Lektüre machen. Mit ihrem extrem reduzierten Stil findet sie den richtigen Ton, um die Wucht ihrer Thematik zu entfalten, ohne jemals in einen agitatorischen Duktus zu rutschen. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass es kein explizit hoffnungsvolles Buch ist. Und dennoch klappt man das Buch zu mit dem Gefühl, irgendwie stärker oder entschlossener zu sein als zuvor. Dilek bringt es auf den Punkt:
„Wir hatten alle zu lange gebraucht, um zu verstehen: Es konnte nicht die Lösung sein, dass sich nur die wehren, die nicht mehr anders können, wir mussten es alle gemeinsam machen.“
Die 33-jährige Autorin befindet sich noch ganz am Anfang ihrer literarischen Karriere. Trotzdem steht sie schon jetzt für eine neue Tradition politischen, internationalistischen Schreibens. Eine Kategorie, zu der auch ihre PEN Berlin Kollegin Ronya Othmann gezählt werden kann, die mit einem Zitat auf dem wunderschönen Buchumschlag vertreten ist und 2020 mit einem Roman über den Genozid an den Jesid:innen debütierte. Im Interview mit ihrem Verlag sagte Schentke, dass für sie das „Schreiben ein Versuch einer Distanznahme“ sei, womöglich ein hoffnungsloser, denn das „Gegenwärtige“ sei doch immer präsent und zwinge zum Hinsehen. Angesichts der türkischen Angriffe auf die autonomen kurdischen Regionen in Nord- und Ostsyrien könnten ihre Worte zutreffender und aktueller nicht sein.
Anna Yeliz Schentke: Kangal, S. Fischer Verlag, 208 Seiten, 2022, 21 Euro
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