Der 20-jährige Thoralf Czichon, Student der Literaturwissenschaft an der FU Berlin, veröffentlicht seit 2019 Besprechungen klassischer Bücher auf dem Youtube-Kanal LiteraturNews. Ein Gespräch über seine Ausrichtung und den großen Abonnent:innen-Zuwachs im letzten halben Jahr.
Interview: Sidney Kaufmann
Sidney Kaufmann: Hallo Thoralf. Wurdest du schonmal interviewt?
Thoralf Czichon: Nein, aber es ist tatsächlich schon öfter vorgekommen, dass ich in Berlin angesprochen wurde. Gerade hier in der Mensa der FU.
Wahrscheinlich werden in den Seminaren alle deinen Kanal kennen.
Ich hoffe nicht, sonst ist man so unter Beobachtung. Aber in den letzten Wochen ist der Kanal ziemlich gewachsen. Vielleicht sind die, die mich ansprechen, nur die Spitze des Eisbergs. Vielleicht gibt es hinter ihnen noch eine große schweigende Mehrheit. Da werde ich schon fast paranoid.
Wie ist dein Kanal an diesen Punkt gekommen?
Die Bücherszene auf Youtube ist eine kleine Nische und die klassische Literatur, die ich bespreche, ist eine Nische innerhalb dieser Nische. Man muss sein Publikum finden. Ich tröpfelte anfangs bei 60 Abonnenten und irgendwann hat jemand meinen Kanal empfohlen. Dann sind direkt 300 Abonnenten dazugekommen. Ein Video ist mit 40.000 Aufrufen durch die Decke gegangen. Es wurde auf die Startseite vieler peripher an Literatur Interessierter gespült und war mein Durchbruch.
Du lädst pro Woche meistens eine Buchbesprechung hoch. Wieviel Prozent von dem, was liest, besprichst du auch?
Vielleicht 50 Prozent. Nicht jedes Buch, das ich lese, rezensiere ich. Manchmal besteht kein Mitteilungsbedürfnis. Aber manchmal ist es einfach eine konsequente Fortführung des Lesens, anderen den Leseeindruck mitzuteilen.
Wirst du bei den Videos unterstützt?
Nein, das ist alles Eigenregie. Anfangs habe ich mich mit Smartphone und Stativ in den Wald gesetzt, weil es in meiner Wohnung zu sehr hallt. Irgendwann habe ich mir dann ein Mikrophon für 80 Euro gekauft. Jetzt kann ich von zu Hause oder, wie im Oktober, auf der Frankfurter Buchmesse filmen.
Wie gehst du bei einer anstehenden Besprechung vor?
Man muss sich vorab eine Video- und Gedankenführung überlegen, sonst verhaspelt man sich schnell in irrelevanten Ausschweifungen. Dazu notiere ich mir auf einem Zettel, was ich unbedingt sagen möchte. Es ist immer mein Anspruch, dem literarischen Wert gerecht zu werden. Natürlich klappt das nur in den wenigsten Fällen. Es kann einem gelingen, einzelne literarische Qualitäten einzufangen. Aber ein Buch ist letztlich immer besser als das, was man über ein Buch sprechen kann. Das ist ein natürliches Gesetz in der Kunst.
Wie subjektiv soll Literaturkritik sein?
Man kann natürlich sagen, dass Kritik immer subjektiv ist. Bei der institutionellen Literaturkritik würde ich aber erwarten, dass die Kriterien, die der Kritik zugrunde liegen, offengelegt und objektiviert werden. Die meisten bei Bookstagram, BookTok und Booktube halten pastellfarbene Buchcover in der Hand und schwärmen in einem inflationären Adjektivgebrauch von einem Liebesroman. Das finde ich aber auch in Ordnung. Das ist Selbstverwirklichung. Andererseits verdienen viele damit Geld.
Wo verortest du dich auf diesem Spektrum?
In der Mitte. Ich will nicht nur auf meinem Leseeindruck beharren. Ich habe den Anspruch, meine Meinung zu begründen. Ich möchte aber auch kein literaturwissenschaftliches Seminar abhalten, in dem persönliche Aspekte verpönt sind. Der Versuch ist, die Literatur auf eine höhere Ebene zu bringen. Häufig lese ich in die Biografien der Autoren, um einen persönlichen Zugang zu der Literatur zu gewinnen. Ich behandle Text nicht einfach als Text. Im Gegensatz zu Roland Barthes und dem ‚Tod des Autors‘ gehört der Autor für mich unweigerlich dazu. Letztlich ist es die Hand des Schriftstellers, die den Text schreibt. Es ist seine Lebenswirklichkeit, auf die er zurückgreift. Ich möchte dieses Persönliche einbinden und jedem bewusst machen, dass Literatur Leben ist. Dass ein Buch von 1834 universell menschliche Gedanken enthält, die jeden etwas angehen. Dafür versuche ich, die Leute zu sensibilisieren. Und ich glaube, damit bin ich erfolgreich. In den Kommentaren lese ich oft: Ich interessiere mich eigentlich gar nicht so für Literatur, aber ich höre dir gern zu.
Viele Kommentare loben deine angenehme Stimme und deine Eloquenz. Inwiefern inszenierst du dich?
Es ist bestimmt Inszenierung dabei. Einfach weil ich etwas in ein anderes Medium transportiere. Ich kann nicht ausblenden, wie ich mich am besten darstelle. Ganz ohne Schnitte komme ich nicht aus. Das sieht man meinen Videos an. Da bin ich nicht so selbstbewusst, dass ich meine Schwächen zeige. Manchmal regen mich auch bestimmte Gesten auf, wenn ich übergestikuliere. Aber wenn ich glaube, dass der Inhalt halbwegs gut ist, habe ich auch das Selbstbewusstsein, diese Videos zu publizieren.
Bekommst du auch Anfeindungen?
Ich habe einmal ein Video zu einem Buch von Stephen King hochgeladen. Das war ein Verriss. Ich habe das Buch abgrundtief verachtet. Es war für mich verschwendete Lebenszeit. Ich habe aber versucht, dem Buch gerecht zu werden und mich nicht im Ton zu vergreifen. Da gab es dann die Stephen King-Anhängerschaft, die damit nicht einverstanden war. Manchmal gibt es Kommentare, die auf mein Äußeres abzielen. ‚Ist das ein Zwitter?‘. Das passiert aber nur ab und zu. Selten kommt etwas Vernichtendes. Glücklicherweise.
Verfolgst du das klassische Feuilleton?
Weniger. Ich schaue die Literatursendungen im Fernsehen, das macht mir Spaß. Am liebsten mag ich den Literaturclub im Schweizer Fernsehen, weil der so herrlich geerdet ist. Beim Literarischen Quartett will man sich immer sehr in Szene setzen und mit Rhetorik prahlen. Das stößt mir manchmal unangenehm auf. Obwohl ich Thea Dorn sehr schätze. Sehr oft bringt die Buchhändlerin, in deren Laden ich arbeite, auch die SZ und die FAZ mit. Da lese ich dann das Feuilleton in ruhigen Minuten. Außerdem habe ich ein ZEIT-Abonnement. Rezensenten, die ich schätze, sind Paul Ingendaay und Ijoma Mangold.
In deinen Videos berichtest du, dass du früher andere Literatur gelesen hast.
Als Kind war ich ein eifriger Leser. Aber die Schule hat etwas in mir abgetötet. Mit dem Deutschunterricht habe ich das Interesse am Lesen verloren. Das geht vielen so. Als mit dem Schulabschluss der Zwang vom Medium Buch abgefallen war, habe ich wieder Lust aufs Lesen gehabt und freiwillig ein Buch in die Hand genommen.
Weißt du noch, welches das war?
„Stiefkind“ von S. K. Tremayne, ein Psychothriller. Ich habe mit Genreliteratur begonnen. Am Anfang wollte ich nur Unterhaltung und nicht, dass sich mein Blick auf die Welt verändert. Diese Literatur hat absolut ihre Daseinsberechtigung, aber heute habe ich andere Ansprüche. Allmählich habe ich mir einen Weg in das Herzstück der Weltliteratur gebahnt. Obwohl ich merke, dass es auch fad ist, sich nur mit alten Büchern zu befassen. Es gibt viele, die die Gegenwartsliteratur verschreien – all diese postmodernen und avangardistischen Strömungen. Damit hadere ich auch. Aber es gibt auch großartige Autoren unserer Zeit, die es sich lohnt zu lesen.
An wen denkst du?
Daniel Kehlmann, Clemens Setz, Juli Zeh. Vor allem aber hat es mir Hanns-Josef Ortheil angetan. Mit Markus Grimm – einem noch kleinen Youtube-Kollegen – habe ich ein Gespräch über unsere Lieblingsbücher geführt. Darin stelle ich sein Buch „Die Mittelmeerreise“ vor.
Alles in deinem Leben dreht sich um Literatur – wann hast du das letzte Mal nicht gelesen?
Die Phase kommt immer wieder. Gerade ist sie nicht da. So richtig Romane verschlingen wie vor einem Jahr, kann ich gerade aber gar nicht. Ich befürchte, dass das mit dem Studium zusammenhängt. Es liegt nicht an der Zeit, sondern an diesem verwissenschaftlicht-analytischen Blick auf die Literatur. Dass ich nicht mehr nur genießen kann, sondern unbewusst gleich hinterfrage. Für die Leidenschaft ist das eher nachteilig.
Hast du Angst, dass du irgendwann übersättigt bist?
Ja. Für mich war Literatur immer etwas Transzendentes, Magisches, Metaphysisches, das etwas mit einem macht. Wenn man irgendwann in dem Buch nur noch ein System zwischen zwei Deckeln erkennt, dann verliert die Literatur einen wesentlichen Bestandteil ihrer Besonderheit. Ich kann nicht prognostizieren, wie es sich in den nächsten Jahren entwickeln wird.
Mit 15 hast du ein Buch in einem Selfpublisher-Verlag veröffentlicht. Wie stehst du heute dazu? Schreibst du noch?
Ich würde gerne viel mehr schreiben. Leider habe ich einen inneren Richter in mir, der alles direkt kritisiert. Selbst wenn ich abends in mein Tagebuch schreibe. Das ist fatal: Man macht es beim Tagebuch ja gerade für sich. Mit den Jahren sind meine Ansprüche gewachsen. Mit 15 habe ich die 230 Seiten des Buchs in fünf Wochen runtergeschrieben. Heute kann ich mit dem Text natürlich nicht mehr viel anfangen. Das Verhältnis ist sehr distanziert. Ich kann das im Grunde nicht mehr ohne Fremdscham lesen. Ich habe ihn erfolglos versucht runterzunehmen. Jetzt lasse ich es beruhen. Schwamm drüber. So schlimm ist es nicht.
Wie soll es mit dem Kanal weitergehen?
Ich bekomme viele Anfragen von anderen Kanälen. Ich will mich auf jeden Fall mehr vernetzen. Es soll nicht nur bei Buchbesprechungen bleiben, auch wenn das ein gern geschautes Format ist. Ich bekomme häufig die Frage gestellt, ob ich nicht ein Buch einlesen will. Das ist mir zu viel. Ich habe aber mit kurzen Lesungen angefangen – zum Beispiel aus der Biografie von Lou Andreas-Salomé. Es hat mir sehr gefallen auf der Frankfurter Buchmesse Autoreninterviews anzufragen. Es ist ganz irre: Vor einem Jahr in Frankfurt habe ich mich völlig einsam gefühlt und mich gefragt, was ich hier eigentlich mache. Ein Jahr später habe ich mit Elke Heidenreich ein Interview geführt. Das war schon ein großer Sprung. Ich will auf der kommenden Buchmesse auf jeden Fall wieder Interviews führen.
Danke für das Gespräch.
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