Die Literatur hat heute mehr denn je den Anspruch, die gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden. Dass sie diesem Anspruch schon längst nicht mehr gerecht wird, ist fatal. Umso dringender ist jetzt ein Schreiben, das es mit den Herausforderungen unserer Zeit aufnimmt.
Ein Essay von Johanna Schnitzler
Man stelle sich vor: Ein idyllischer Sommerabend während meines Germanistikstudiums in Potsdam. Nach einem langen Tag am Schreibtisch, an dem ich die Welt um mich herum ausgeblendet hatte, beschloss ich mich am Abend noch für eine Weile mit einem Buch und einer Limo in den Park zu setzen. Als ich allerdings aus der Haustür trat, schlug mir eine Wand heißer Sommerluft entgegen. Im nächsten Moment umfing mich eine dicke Rauchwolke, es roch verbrannt und die Luft um mich herum war seltsam und unnatürlich gelb verfärbt. Es war 2019, jener Sommer, in dem die Wälder Brandenburgs immer wieder Feuer fingen, nach 2018 erneut ein „Waldbrandrekordjahr“. Die Rauchwolken zogen bis nach Potsdam und Berlin. Mich trieb es an dem Abend schnell wieder nach drinnen – war ich zwar nicht in unmittelbarer Gefahr, hielt ich das beklemmende Gefühl, die diffuse Angst, die die gelbe Luft und dieser eindringliche Geruch in mir auslösten, nicht lange aus. Plötzlich rückte alles, mit dem ich mich zuvor immer wieder auseinandergesetzt hatte, über das ich unzählige Zeitungsartikel gelesen und Dokus geschaut hatte, in spürbare Nähe. Plötzlich wurde für mich physisch erfahrbar: Die Welt um mich herum steht metaphorisch, aber auch ganz real in Flammen. Und wir alle sind schon jetzt unmittelbar davon betroffen.
Man stelle sich weiterhin vor: Ein Seminarraum, der an dieser Stelle exemplarisch für viele weitere seiner Art steht. Hier saß ich und saugte alles auf, was mir beigebracht wurde, begann Literatur als eine meiner großen Leidenschaften zu erfahren. Hier saß ich aber auch und fand mich immer wieder in Diskussionen über engagierte und politische Literatur, die suggerierten, dass Literatur niemals funktionalisiert oder für ein bestimmtes Thema vereinnahmt werden sollte. Immer wieder wurde das Konzept eines engagierten Schreibens abgetan. Literatur schien sich als etwas zu entpuppen, das in einer Blase existiert. Für mich hingegen war sie schon immer einer der wichtigsten Wege, um mir die Welt um mich herum zu erschließen und meine Erfahrungen einzuordnen.
Als ich schließlich in diesem Sommer in meine Lieblingsbuchhandlung ging, wurde das ungute Gefühl, mit dem ich aus meinen Seminaren gekommen war, zu einem greifbaren Unbehagen, fand ich dort doch kaum Romane, die sich mit der Klimakrise auseinandersetzten. In mir entstand ein Widerspruch, der – wie ich später verstand – sinnbildlich für den heutigen Literaturbetrieb steht: Welche Relevanz haben eine Literatur – mit „Literatur“ meine ich hier vor allem Belletristikneuerscheinungen – und ein dazugehöriger Literaturbetrieb noch, die in einer Zeit multipler Krisen – und dabei geht es nicht nur um die Klimakrise – einige der existenziellsten Krisen systematisch ausblenden, aber gleichzeitig die Selbstdarstellung als elitäre, kritische und reflektierte Gruppe perfektioniert haben? Wie kann es sein, dass sich die Romane, die in den letzten fünf Jahren in Deutschland erschienen sind und sich mit der Klimakrise auseinandersetzen, an zwei Händen abzählen lassen, während sich die wissenschaftlichen Meldungen zu näher rückenden oder schon überschrittenen Tipping Points überschlagen? Die Literatur hat heute mehr denn je den Anspruch die gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden und doch gibt es jene blinden Flecken, von denen die Klimakrise wohl der größte ist.
Das Gespenst der Vereinnahmung
Die Literaturwissenschaft aber auch der Literaturbetrieb bewegen sich in einer Denktradition, die politische Literatur aus Angst vor der Vereinnahmung durch politische Parteiprogramme abtut. Das ist natürlich nicht vollkommen unbegründet, man denke nur an die Regulierung der Literatur in der DDR. Aber hier geht es um so viel mehr als politische Programme. Hier geht es nicht um die Politik, sondern um das Politische. Die Perspektive auf das Politische als Gesamtheit kollektiven Handelns öffnet die hochpolitische Dimension der Klimakrise. Sie verändert unser Handeln und Zusammenleben als Weltbevölkerung schon jetzt grundlegend und wird sie in Zukunft noch fundamentaler beeinflussen und beschränken. Aber auch das Politische der Literatur, die niemals in einem Vakuum, sondern innerhalb gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse entsteht und auf diese rückwirkt, wird mehr als deutlich. Die Potenziale, die sich daraus ergeben, sollten noch aktiver genutzt werden: Unsere Welt steht in Flammen und wir können es uns nicht leisten, in unserem Elfenbeinturm zu bleiben und all dem untätig zuzusehen, nur weil wir meinen, alten, inzwischen nicht mehr tragbaren Denktraditionen verhaftet bleiben zu müssen. Wir können es uns nicht leisten zu hadern. Wir brauchen jegliches erdenkliche Mittel, um Veränderung in Gang zu bringen – auch und nicht zuletzt die Literatur.
Ich weiß, einige mögen beim Lesen dieser Zeilen vielleicht den teuren Wein über ihr Hemd gekippt haben und denken: „Alarm, Alarm! Vereinnahmung der Literatur!“ Aber ja, ich sage es wie es ist: Ich bin für eine Vereinnahmung der Literatur, und zwar für eine gerechtere Welt. Eine Welt, in der wir und unsere Kinder auch in 50 Jahren noch leben können. Die Klimakrise ist für meine und für alle folgenden Generation längst zu einer realen existenziellen Bedrohung und Not geworden. Das Privileg einer Literatur, die ausschließlich der Autonomie und dem Eskapismus frönt, haben wir schlicht und ergreifend durch unsere SUVs, durch unsere Urlaube am anderen Ende der Welt, durch unseren maßlosen Konsum und vor allen Dingen durch unsere jahrzehntelange Untätigkeit verspielt.
Die Klimakrise und die Macht der Fiktion
Auf die Frage, wie es denn nun kommt, dass sich die Romane unserer Zeit in so einem erstaunlich geringen Maße mit der Klimakrise beschäftigen, mangelt es nicht an Antworten. Eine der größten Herausforderungen für das Schreiben ist dabei wohl das globale Ausmaß der Krise. Durch die Klimakrise wird mehr denn je deutlich, wie eng alles auf diesem Planeten vernetzt und miteinander verworren ist. Die Form des Romans wird dadurch vor enorme Hürden gestellt. So kann die planetarische Dimension doch immer nur anhand von einzelnen Orten erzählt werden, die schließlich durch globale und transnationale Prozesse bestimmt werden. Und auch die Komplexität der Klimakrise mit ihren nachweisbaren und nicht-nachweisbaren Ursachen und Folgen birgt Schwierigkeiten, will man nicht in die Form eines wissenschaftlichen Sachberichts abdriften, gleichzeitig aber der Wirklichkeit Rechnung tragen. Der indische Schriftsteller Amitav Gosh stellt in seinem Buch „Die Große Verblendung“ ganz treffend fest: „Das Wesen des Klimawandels setzt sich aus genau den Phänomenen zusammen, die vor Langem aus dem Territorium des Romans verstoßen wurden – aus Kräften von unvorstellbarer Gewalt, die unerträglich enge Verbindungen über unermessliche Zwischenräume in Zeit und Raum hinweg herstellen.“
Und so sind die Belletristikneuerscheinungen zum Thema doch eher dünn gesät und die nach Erklärungen und Hilfe suchende Leserin wird immer wieder auf Zeitungsartikel und Sachbücher zur Klimakrise zurückgeworfen, die – das muss ich an dieser Stelle zugeben – den Markt seit einiger Zeit in beträchtlichem Maße überschwemmen. Von Büchern mit Tipps, wie wir das Klima nun am besten retten, bis zum Gärtnern im Klimawandel ist hier für jeden Geschmack und für jedes Bedürfnis etwas dabei. Und doch scheint die Wirkung dieser Texte begrenzt zu sein. Mittlerweile ist bei vielen Menschen eine zunehmende Abstumpfung gegenüber der Klimakrise zu beobachten. Sie können es einfach nicht mehr hören. Die Zahlen und Berichte von Seiten der Wissenschaft überschlagen sich und wir werden so überhäuft mit Modellen und Statistiken, die uns das Ausmaß der Katastrophe auf dem Silbertablett servieren, dass wir mittlerweile den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Errechnete Szenarien wie, dass zum Ende dieses Jahrhunderts vermutlich rund 200 Millionen Menschen ihre Heimat durch den steigenden Meeresspiegel verloren haben werden, berühren uns kaum mehr. Dabei sind sie unglaublich traurig, wenn man sich wirklich mal ihre Bedeutung vor Augen führt.
Mir persönlich wurde die tiefe Verwicklung des Menschen in natürliche Prozesse und das Ausgeliefertsein an die Natur im Angesicht der Krise, in die wir immer weiter hineinschlittern, so richtig im Sommer 2017 bewusst, als ich Maja Lundes „Die Geschichte der Bienen“ las. Jenes Buch, das monatelang auf der Spiegel Bestsellerliste stand und anhand von drei Handlungssträngen eindringlich die Geschichte und Bedrohung der Honigbienen und deren Folgen für die Menschheit verdeutlicht. Eine nicht besonders ausgefallene oder anspruchsvolle Lektüreauswahl vielleicht. Aber darum geht es an dieser Stelle gar nicht. Tatsache ist, dass dieser Text einen der Grundsteine für mein heutiges Engagement innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung bildet. Natürlich habe ich mich schon vor dieser Lektüre viel mit diesen Themen auseinandergesetzt, aber so richtig – auch emotional – ist der Groschen erst nach diesem Buch gefallen.
Das ist nämlich genau der Punkt: Literatur eröffnet Zugänge, die wissenschaftlichen Quellen und Erklärungen verschlossen bleiben. Literatur kann der Normalisierung der Klimakrise entgegenwirken, indem sie die Lesenden emotional berührt und in ihrer persönlichen Erfahrung anspricht. Durch die Literatur können Menschen erfahren, welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Klimakrise in Zukunft haben kann. Es wird erlebbar, welche Folgen das für den individuellen emotionalen und psychischen Zustand, wie auch für die kollektive Gemeinschaftlichkeit haben kann. Literatur öffnet einen Raum subjektiven Klimawandelerfahrens und kann dadurch etablierte Diskurse aufbrechen und uns von diesen befreien. Sie verfügt damit über Möglichkeiten, die abstrakten wissenschaftlichen Fakten und Modellen oft verschlossen bleiben und kann einer Abstumpfung gegenüber Zukunftsprognosen und Statistiken entgegenwirken.
Der Mittäterschaft bezichtigt
Das Schlimmste, das wir bei all dem tun können, ist untätig zu sein und die Fakten zu ignorieren oder gar zu vertuschen. Das betrifft auch und nicht zuletzt die Literatur. Doch genau das passiert seit Jahren. Amitav Gosh zeigt in „Die Große Verblendung“, wie wir es seit Jahrzehnten in fast phänomenaler Weise schaffen, die Fakten und damit die Bedrohung der Klimakrise zu verschleiern. Dieses Übergehen der Fakten hat sicher viele Gründe, einer der Wichtigsten: Gerade die Akteure, mit der meisten gesellschaftlichen Macht, wie Unternehmer*innen, Manager*innen und Politiker*innen, profitieren von ihren Treibern wie zum Beispiel fossilen Energieträgern oder klimaschädlichen, dafür aber günstigen, Produktionsweisen. Gleichzeitig sind sie diejenigen, die durch ihre gesellschaftliche Stellung am wenigsten unter ihren Folgen leiden. „Insofern ist es doch sehr wahrscheinlich, dass unsere Ära, die sich so gerne ihrer Selbsterkenntnis rühmt, als Zeit der Großen Verblendung in die Geschichte eingehen wird“, schreibt Gosh. Diesem Gedanken möchte ich mich an dieser Stelle anschließen.
In weiten Kreisen ist es mittlerweile Konsens, dass die Klimakrise auf das Engste und Gewaltvollste mit dem Kapitalismus und Imperialismus zusammenhängt. Das betrifft nicht nur die Machtkonstellationen, die die Klimakrise anheizen und Basis für imperialistische und kapitalistische Strukturen sind, sondern eben auch die sozial ungerechten und klimaschädlichen Folgen. Indem die Literatur und der dahinterliegende Betrieb die Klimakrise weitestgehend ausblenden, sind sie Teil eines kollektiven Verdrängungsprozesses, der durch kapitalistische Logiken und Interessen aufrechterhalten wird und machen sich damit der Mittäter- und Komplizenschaft schuldig.
Denkt man diese Zusammenhänge weiter, bedeutet das auch, dass Literaturförderung neu gedacht werden muss. Auf die Gefahr hin zynisch zu wirken, möchte ich hier nochmal auf die oft postulierte und geforderte Unabhängigkeit der Literatur zurückverweisen, die für viele eingefleischte Teilnehmende kultureller Debatten anscheinend als höchstes Gut und vorderstes Argument der Verteidigung einer unpolitischen Literatur gesehen wird. Wenn man genau hinschaut, war die Literatur jedoch nie abhängiger als heutzutage. Die Vereinnahmung der Literatur ist schon seit langem eingebrannt in unseren Literaturbetrieb. Nie konnte man mehr die Kommerzialisierung der Literatur und die Vereinnahmung durch den Kapitalismus beobachten. Was wir aus diesem Grund brauchen, ist eine stärkere Literaturförderung für Texte, die versuchen, sich mit neuen Themen auseinanderzusetzen und neue Formen als Antwort auf die Herausforderungen, die die Klimakrise an den Roman stellt, zu finden. Eine Literaturförderung also, die die Literatur unabhängiger von kapitalistischen Prozessen macht. Ein Schreiben über die Klimakrise ist immer auch ein Schreiben über und gegen dessen größte Treiber. Wie aber soll eine Literatur entstehen, die die Klimakrise und die damit auf das engste verwobene kapitalistische Macht aufgreift und vielleicht sogar anprangert, solange sie gleichzeitig zutiefst von dieser Macht abhängig ist? Was wir also brauchen, ist kein Literaturbetrieb, sondern eine Literaturgemeinschaft, in der wir uns verbünden für eine klimagerechte Welt.
Die Zeichen der Klimakrise
Und so frage ich mich: Wo bleibt sie, die Literatur, die die Klimakrise aufgreift? Und damit meine ich nicht nur die Climate Fiction, jenes Genre, das in einer globalen Perspektive tatsächlich von Barbara Kingsolvers „Flight Behavior“ bis zu Laura Groffs Kurzgeschichtensammlung „Florida“ und Charlotte McConaghys „Zugvögel“ einige Vertreter*innen und die Klimakrise als zentrales Thema hat. Doch auch hier hinkt der deutsche Buchmarkt deutlich hinterher. Die Klimakrise ist schon längst kein Thema mehr, das man in einem Text behandeln kann oder eben nicht. Die Klimakrise ist der neue Zustand unseres Daseins und damit Basis für alles Weitere, wenn man die Wirklichkeit abbilden will. Wo bleibt sie also, die Literatur, die eine Welt der heißen Sommer, der Überschwemmungen und der Klimaangst ganz selbstverständlich zur Kulisse macht und zeigt, wie all das unseren Alltag, unsere Beziehungen, unsere Kriminalfälle und unsere Arbeit verändert? Wo bleibt sie, die Literatur, die wirklich ihrem Anspruch gerecht werden kann die Wirklichkeit abzubilden?
Samuel Hamen macht in einem sehr lesenswerten Beitrag auf 54books deutlich, wie Migration, Klimakrise und Terrorismus die Zeichen der uns umgebenden Welt verändern: „Die Natur verliert ihre kontemplative Unschuld, mit der wir ihr begegnet sind, mit der sie uns umschmeichelt hat. Das Meer, das unsere urlaubsgeilen Zehen mit Wellenschaum kitzelt, ist das Meer, in dem 2015 3771 Menschen ertrunken sind, die in Europa Zuflucht suchten.“ Für mich und viele andere Menschen, die sich in der Klimagerechtigkeitsbewegung engagieren, sind tagelange heiße und trockene Phasen, wie wir sie auch in diesen Sommer wieder erleben, schon lange kein Grund zur Freude mehr, sondern eine Quelle von tiefer Beunruhigung und sogar Angst und Nachrichten von Waldbränden in ein paar Kilometern Entfernung schon längst nichts mehr, was man im nächsten Moment wieder vergisst. Dieses Gefühl und die Verschiebung des Blickes sollten auch in Texten abgebildet werden und das Lesen von Texten verändern. Tagelanges gutes Wetter sollte auch in Texten nicht mehr nur für einen besonders schönen Sommer, sondern für Dürre stehen und Kerosinstreifen am Himmel nicht mehr nur für Reisen ins Urlaubsparadies, sondern für den viel zu hohen CO2-Austoß des Flugverkehrs. Die Betonung liegt hier auf dem Wort „sollte“. Mir ist durchaus bewusst, dass sich unsere Lese- und Schreibgewohnheiten nicht von heute auf morgen verändern werden, nur weil ein paar wenige meinen, dass das clever wäre. Aber Literatur ist eben immer auch ein Weg, um unsere Wirklichkeitswahrnehmung zu schärfen, unseren Blick auf unsere Umwelt zu verändern und kulturelle und historische Wahrnehmungsmuster aufzubrechen.
Doch das ist keineswegs ein Selbstläufer. Genau wie jedes andere Werkzeug müssen wir auch dieses erst lernen zu nutzen. Wir müssen lernen, die Zeichen in der Literatur und schließlich auch die in der Welt um uns herum neu zu deuten, um ihre wirkliche Bedeutung zu erkennen. Wir müssen lernen, uns freizumachen von verkrusteten romantischen Idealen oder kapitalistischen Besitzansprüchen gegenüber der Natur, die viel zu tief in unserer Kultur verankert sind. Wie sonst wollen wir ins Handeln kommen und eine Handlungsmacht entwickeln? Wie sonst wollen wir tätig werden und für eine bessere Welt einstehen, wenn wir die Krisen der jetzigen nicht erkennen? Viel zu lange haben wir gelernt, die Natur um uns herum zu idealisieren, zu romantisieren, als unendliche Ressource und als bloße Kulisse unseres Handelns zu sehen, ohne zu verstehen, dass sie zutiefst auf unser Tun rückwirkt und diesem mehr und mehr Grenzen setzt.
Genau an diesem Punkt kommt die Literaturkritik ins Spiel. Zurzeit scheint die seriöse Literaturkritik Texte mit Klimabezug – mit ein paar Ausnahmen – weitestgehend auszublenden. Wir brauchen eine Literaturkritik, die diese Texte aus der dunklen Nische der Science Fiction und damit vermeintlich nicht ernstzunehmender Literatur hinausholt. Amitav Gosh schreibt ganz treffend: „Es scheint, als werde das Thema Klimawandel von der literarischen Imagination als irgendwie geistesverwandt mit Außerirdischen oder interplanetarischen Reisen empfunden.“ Das ist ein ganz reales Problem des Literaturbetriebes und des Feuilletons seröser Medien, werden dabei doch zwei grundlegende Dinge verkannt: Zum einen die literarische Qualität vieler dieser Texte und zum anderen, dass die Klimakrise schon jetzt die Realität und nicht irgendein abgespactes Zukunftsszenario ist. Wir brauchen eine Litertaturkritik, die diese Texte in die Mitte der Debatte holt und uns hilft, unseren Blick auf Texte zu schärfen und die Zeichen in den Texten und damit schließlich auch jene in der uns umgebenden Welt zu verstehen.
Von alten Bedeutungen und neuen Potenzialen
Vor einigen Monaten fand ich mich in einer Diskussion mit anderen jungen politisch engagierten Menschen darüber wieder, ob wir es uns heute überhaupt noch leisten können, uns intensiv beruflich mit Dingen wie Literatur zu befassen oder ob wir unsere Energie nicht eigentlich auf die Bekämpfung all dieser Krisen, in die sich die Gesellschaft reinmanövriert hat, bündeln sollten. Und genau das ist der Punkt: Die Literatur und der Literaturbetrieb haben es irgendwie geschafft, sich bei einer signifikanten Gruppe, die früher vermutlich zu ihrem zentralen Adressat*innenkreis gehört hätte, ins Abseits zu befördern. Sie wird als weltfremder Luxus wahrgenommen, als irgendwie in den Wolken schwebend. Dabei ist es nicht so, dass sich gar nichts tut. Es gibt bereits einige gute und wichtige Texte zur Klimakrise, dazu gehört nicht nur Maja Lundes Klimawandelquartett, oder Charlotte McConaghys „Zugvögel“, sondern auch Helene Bukowskis „Milchzähne“ und das kürzlich im Verlag Matthes & Seitz erschienene Buch „Der Mann mit den Facettenaugen“ von Wu Ming-Yi. Dazu gehören auch Projekte wie das nun seit einigen Jahren stattfindende Climate Cultures Festival in Berlin.
Letzten Endes sind die Klimakrise und ihre Artikulation nicht nur eine Herausforderung für das Erzählen, sondern auch eine Chance für die Literatur, zu neuer gesellschaftlicher Relevanz zu finden. Die Coronapandemie hat gezeigt, dass sie dieses Potenzial noch immer birgt, als plötzlich Camus‘ „Die Pest“ über Wochen nichtmehr erhältlich war. Es wurde mehr denn je deutlich, dass Menschen in Krisen noch immer das Bedürfnis nach Erklärung und Orientierung haben und dass sie diese in der Literatur suchen. Wir sollten dieses Bedürfnis wahrnehmen, wir sollten mutig sein, wir sollten alles Erdenkliche tun, um der Großen Verblendung – um mir Goshs Wortwahl zu eigen zu machen – entgegenzuwirken, aus der Rolle der Mittäter*innen herauszutreten, den Menschen neue Möglichkeiten des Begreifens der Wirklichkeit zu geben und ihnen schließlich zu Handlungsmacht zu verhelfen. Aber das können wir nicht irgendwann in Angriff nehmen. Wir müssen es jetzt tun. Genau jetzt brauchen wir mehr denn je eine Literatur für die Zukunft. „Bildet euch, bildet andere, bildet Banden“, heißt es oft in linken aktivistischen Kreisen – und ich denke, nichts könnte passender sein für eine Literaturgemeinschaft im Zeichen der Klimakrise.
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