Antisemitismus – verständlich erklärt für Kinder? Kein einfaches Thema! Doch auf eine verständliche Erklärung kann man lange warten, denn das versucht „Völlig meschugge!?“ gar nicht erst. Mit der Warmherzigkeit, die Andreas Steinhöfels Bücher auszeichnen, wird in seiner neuen Graphic Novel die Geschichte der Krise einer jugendlichen Freundschaft erzählt. Mutige Jugendliche trotzen den Problemen, die andere für sie in die Welt gesetzt haben.
„Warum verheimlichen wir eigentlich, dass wir Juden sind?“, fragt der junge Benny seine Eltern einmal in der Geschichte. „Weil wir keine Lust auf Ärger haben“, sagen diese. Und diesen „Ärger“ muss Benny leider am eigenen Leib erfahren – an die Tafel in seiner Klasse wird ein riesiges Hakenkreuz gemalt und er wird auf dem Schulhof verprügelt. Seit Benny offen die Davidsternkette seines verstorbenen Großvaters trägt, erfährt er Anfeindungen. Der Judenhass kommt von allen Seiten, mehrere Kinder und sogar Lehrkräfte haben ihm gegenüber Ressentiments. Ein überforderter Lehrer sagt zu den Anfeindungen: „Es kam mir so vor, als ob er es irgendwie drauf angelegt hätte.“ Diese in der Geschichte geschilderten Vorfälle sind nicht weit hergeholt. Durchschnittlich sieben antisemitische Vorfälle pro Tag meldete kürzlich der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V für das Jahr 2021. Was nach harter Lektüre für Kinder klingt, ist auch hart. Weil die Realität es ist. Doch diese zeigt die Graphic Novel warmherzig und ohne erhobenen Zeigefinger aus einer kindlichen Perspektive.
Unzertrennliche Freunde?
Hamid, Benny und Charly sind beste Freund*innen. Hamid ist als Kind aus Syrien geflüchtet und zeichnet begeistert Comics – Benny, der Sonnenschein der Freundesgruppe, erkundet gerne mit seinem Opa Höhlen – Charly ist Umweltaktivistin und bezeichnet sich selbst als „Wohlstandskind“. Unterschiedlicher geht es kaum, dennoch sind die drei unzertrennlich. Bis Bennys Opa stirbt und ihm eine Kette mit einem Davidstern vererbt. Von allen Seiten erfährt Benny nun Hass und Vorurteile, denn zeitgleich gibt es in der Schule der Kinder eine Reihe an Handydiebstählen. Und leider macht das Misstrauen auch vor der Freundesgruppe keinen Halt. Die Graphic Novel beruht auf der gleichnamigen Serie, die im ZDF erschienen ist. Geschrieben wurde diese vom Kinder- und Jugendbuchautor Andreas Steinhöfel zusammen mit dem Drehbuchautoren Klaus Döring, mit dem Steinhöfel schon weitere gemeinsame Projekte umgesetzt hat und eine gemeinsame Filmfirma hat.
Kartoffel, Kichererbse und Davidstern
Trotz der harten Themen, geht die Graphic Novel behutsam mit ihren Charakteren um, was auch am liebevollen Stil der Illustratorin Melanie Garanin liegt. Die Illustratorin erlangte Bekanntheit durch ihr Debut „Nils“, in dem sie auf eine tröstliche Weise vom Tod ihres 3-jährigen Sohnes erzählt. (Kurzer Tipp am Rande: wer mal wieder Rotz und Wasser heulen möchte, sollte dieses Buch lesen. Es ist unglaublich traurig, aber wunderschön und lässt einen nach der Lektüre trotzdem nicht hoffnungslos zurück). Kontinuierlich versteckt Garanin süße Details auf den Seiten, zum Beispiel sitzen immer wieder Kartoffel, Kichererbse und Davidstern am Rande des Bildes und kommentieren das Geschehen. Und wer als ungeübte*r Graphic-Novel-Leser*in ordentlich aneinandergereiht Bildchen an Bildchen erwartet, wird überrascht. Die Seiten sind immer unterschiedlich aufgebaut. Mal erstreckt sich ein großes Bild über zwei Seiten, mal rutscht man zusammen den Figuren diagonal am Treppengeländer die Seite herunter und auf einmal muss man das Buch hochkant drehen. Und wenn Hamid zeichnet, erscheinen immer wieder Manga-ähnliche Sequenzen auf den Seiten. Diese stammen aus der Feder von David Füleki und spiegeln die Gefühlswelt des jungen Hamid wider.
Viele Themen, wenig Belehrung
Auf die Frage, wie politisch Kinderbücher sein sollten, antwortet Steinhöfel: „Ganz eigentlich bin ich jemand, der das nicht gerne macht. […] Deswegen haben wir hier probiert, das im Prinzip beiläufig zu erzählen. Was wir hier erzählen ist die Krise einer Freundschaft und nicht die Krise des Antisemitismus.“ Und das tut das Buch auch. Die Graphic Novel ist nicht belehrend, es wird keine Moral aufgedrückt. Trotzdem bleibt die Frage, ob es für Kinder nicht fast zu wenig belehrend ist. Die Graphic Novel wird vom Verlag ab 12 Jahren empfohlen. Kann man die Geschichte so fast ohne Hintergrundwissen verstehen?
Denn die Graphic Novel nimmt sich beinahe zu viel vor: Antisemitismus, Flüchtlingsthematik, Umweltaktivismus, Kopftuchdiskussion – und vieles davon bis auf eine kindliche Stimme unkommentiert. Aber dies ist die typisch steinhöfelsche Erzählweise. Kinder sollen überfordert werden und die Aussage der Kinder ist eindeutig. Sie können nichts dafür, worüber sich die Erwachsenen die Köpfe einschlagen, wegen – wie Charly so schön auf den Punkt bringt – „irgendwelchem alten Vorurteilsscheiß“. Und über Dinge reden und diskutieren hilft, anstatt Probleme totzuschweigen oder Diskussionen zu ignorieren. Trotzdem sollte Kindern nach der Lektüre die Möglichkeit gegeben werden, über das Gelesene mehr zu erfahren, denn viele Themen werden nur angerissen. Im Interview sagt Steinhöfel zu dieser Problematik: „Wo die Ursachen für diese Konflikte sind, das wird auch gar nicht weiter aufgearbeitet. Das müssen dann wirklich interessierte Leser machen.“
Eine Heldin in Gummistiefeln
Der liebenswürdige Zeichenstil Garanins und die Sprache Steinhöfels harmonieren und man merkt nicht, dass dies ihre erste Zusammenarbeit ist. An einer Stelle des Buches sagt Charly: „Ein Teil von mir will nicht nur deshalb gemocht werden, weil er irgendwelchen Schönheitsidealen entspricht. Aber der andere Teil wäre auch mal gerne Prinzessin. Vielleicht dreht Disney ja mal irgendwas mit einer Heldin in Gummistiefeln.“ Und auf Disney müssen wir gar nicht warten, denn zusammen haben Steinhöfel und Garanin Figuren erschaffen, die cooler sind als jede Disney-Prinzessin und sich trotz der Herausforderungen, die das Leben und Erwachsenwerden mit sich bringt, selbst zu helfen wissen.
Es gibt Tage, da wünscht man sich, eine Stimme zu hören, die ruft „Die kleine Charly möchte aus dem Bällchenbad abgeholt werden.“ Ihr wisst schon: einfach zurücklehnen und warten, dass jemand anderes für dich die Verantwortung übernimmt. Sich kümmert. Und dann gibt es Tage, da begreifst du, dass das beknackte Bällchenbad für immer geschlossen hat, dann sagt die Stimme: „Krieg den Arsch hoch, Charly. Wenn du dich nicht selber abholst, tut es keiner für dich!“
Denn wenn Kinder nachfragen, sagen Erwachsene wie Charlies Vater „Werd erstmal erwachsen“. Die Graphic Novel versucht nicht, diese Perspektive einzunehmen. Sondern aus einer kindlichen Perspektive heraus die Konflikte einer Erwachsenenwelt zu verstehen, die Erwachsene nicht einmal selbst verstehen und geschweige denn erklären können. Die Aussage des Vaters ist eine Ausrede, weil er selbst nicht weiterweiß. Die sehr aufgeklärte Charly sagt an einer Stelle: „Wenn ich eins über Religionen weiß, dann das: Sie sind rechthaberisch. Und auf einen Boss, der immer Recht hat, hab ich keine Lust. Deshalb liebe ich das Leben, die Natur und die Menschen ja nicht weniger, und dass man sich auf unserem schönen Planeten bei begrenztem Platz und begrenzten Ressourcen nicht die Köpfe einschlagen sollte, muss ich nicht glauben – das sagt mir schon meine Vernunft.“ Und auch ohne zu verstehen, wie die großen Konflikte der Welt funktionieren, ist das doch eine ganz einfache und auch für Kinder verständliche Botschaft.
Andreas Steinhöfel, Melanie Garanin – Völlig meschugge?!, 288 Seiten, Hardcover, Carlsen 2022, 20,00€
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