Spanien, Meer, Papageien im Hintergrund. Ein Anruf bei Nina Kunz in der Schreibresidenz. Mit ihrem ersten Buch, der Kolumnensammlung »Ich denk, ich denk zu viel«, schrieb sie sich direkt in die Schweizer Bestsellerlisten. Über die Verzweiflung im Schreibprozess und die Frage, wie man sinnvoll über die Klimakrise schreiben kann: Ein Einblick in die Gedankenwelt von einer, die zu viel denkt.
Interview: Katharina Gebhard
Seit 2017 schreibst du eine Kolumne für Das Magazin des Tagesanzeigers, die jede zweite Woche erscheint. Ist das Schreiben leichter geworden?
Es ist krass, wie schwer mir die Texte immer noch fallen. Das wirklich Herausfordernde ist die Kürze: einen Gedanken auf 2900 Zeichen einzufangen. Weil das vor allem Verdichtungsarbeit ist, bastle ich immer noch ewig an einzelnen Sätzen rum und verzweifle dabei. Das kannte ich vorher gar nicht.
Wie war das vorher?
Da war ich bei der NZZ einfach ›normale Journalistin‹. Ich war 22 und dachte ich kann alles, ich weiß alles, no problem. Manchmal wünsche ich mir diese Energy zurück. Denn durchs Kolumnen schreiben habe ich gemerkt, wie schwer es ist, keine Vorgaben zu haben. Kolumnen sind total frei und liegen an dieser interessanten Schnittstelle zwischen kreativer Arbeit, die auch literarische Züge hat, und journalistischem Text, der gewisse Kriterien erfüllen soll. Was ich aber zum Schreiben sagen will: Auf eine Art wird’s einfacher. Aber nicht, weil der Schreibprozess einfacher wird, sondern weil ich die Kolumne inzwischen als Spiegel davon sehe, wo ich gerade stehe. Und manchmal werden die Texte eben nicht so flüssig, wie ich das gerne hätte. Aber auch die Texte sind Ausdruck davon, wie ich mich in den zwei Wochen gefühlt habe. Ich kann nicht jedes Mal einen perfekten Text schreiben. Dafür kann ich inzwischen dem Prozess vertrauen und sagen: It is what it is.
Woran verzweifelst du im Schreibprozess?
Ich finde beim Schreiben auf kurzen Strecken ist das Schwierigste die richtige Form für den Inhalt zu finden. Kolumnen können eine sachlich-analytische Erklärung sein oder ein Rant, ein Liebesbrief oder ein innerer Monolog. Manchmal schreibe ich zuerst alles auf, wie eine Notiz, in die ich alles reinpacke, was ich schreiben möchte. Und dann merke ich, dass die Gedanken nicht in der richtigen Reihenfolge sind. Das ist dann der Teil, in dem ich die großen Sinnkrisen habe, durch meine Wohnung gehe und denke: Why am I doing this? Wenn ich verstanden habe, was die Form oder die Geschichte ist, geht es ziemlich schnell. Aber oft muss ich erst 50 Irrwege nehmen, bis ich die richtige Form finde. Und in manchen Wochen finde ich sie auch gar nicht. Das ist dann unbefriedigend, aber auch menschlich.
Und wie ist es mit den Themen? Fällt dir noch genug ein?
Eher im Gegenteil. Ich habe immer zu viele Themen, die mich beschäftigen. In meinem Kopf stelle ich mir eine Gruppe von Themen vor und eins streckt den Arm hoch und schreit: Pick me, pick me. Außerdem ist in den fünf Jahren Kolumne auch gesellschaftlich viel passiert: #MeToo. Die Pandemie. Die Klimakrise ist als Thema in den Fokus gerückt. Zurzeit bin ich verunsichert, wie ich sinnvoll über diese Themen schreiben kann. Muss man immer noch erklären, warum diese und jene Sache sexistisch oder misogyn war? Und wie erzählt man immer wieder etwas Neues über das Pandemie-Gefühl oder die Klimakrise? Manchmal ist es frustrierend, nur so wenig Platz zu haben. Deswegen ist die Frage, die mich momentan beschäftigt: Wie gehe ich als Kolumnistin damit um, dass die gegenwärtigen Themen so komplex und riesig sind und mein Platz so begrenzt und klein?
Charakteristisch für deine Kolumnen ist die Verknüpfung von Theorie und Alltagsphänomenen. Im Vorwort zu deinem Buch »Ich denk, ich denk zu viel« schreibst du, dass es zur Hälfte ein Tagebuch und zur anderen Hälfte ein Theorie-Sammelsurium ist. Was kommt zuerst, das Gefühl oder die Theorie?
Das ist kontextabhängig. Während der Pandemie habe ich gemerkt, dass sich mein Alltag komisch fragmentarisch anfühlt, wenn ich mich abends nicht mit Leuten treffe und ihnen davon erzähle, was ich erlebt habe. Das war eine Beobachtung oder ein Gefühl. Und dann habe ich in einem der Millionen Newsletter, die ich abonniert habe, von einem Begriff aus der Soziologie gelesen, der sich Third Places nennt. Das sind Orte wie Bibliotheken, Bars, Spielplätze, Gemeinschaftszentren – alles, was zu war. Ich kann also meinen Alltag nicht zu einer runden Erzählung formen, weil diese Third Places geschlossen sind. So bringe ich die Beobachtung und das Konzept dann zusammen. Aber manchmal lese ich auch ein Buch oder einen Artikel von einer Autorin und denke, ja, genau, das Gefühl kenne ich auch. Es gibt beides.
Wie entscheidest du, welche Gefühle du zu einer Kolumne verarbeitest?
Meine Regel ist, über nichts zu schreiben, was ich nicht irgendwo gelesen habe oder mit einer Theorie zusammenbringen kann. Denn die ultimative Horrorvorstellung ist für mich, dass jemand sich nach dem Lesen meiner Kolumne so fühlt, als hätte ich von meinem Fußpilz erzählt. Nach dem Motto: Das hätte ich echt nicht wissen müssen. Es soll etwas Produktives entstehen und nicht einfach bloß Gedanken Teilen sein.
Du sprichst immer wieder von Listen und erwähnst das auch in anderen Interviews. Wie kann man sich das vorstellen, was für Listen führst du?
Ich führe einerseits eine Liste mit interessanten Begriffen, die ich lerne. Manchmal weiß ich gar nicht, was sie bedeuten. Zum Beispiel steht hier ›Sunk Cost Fallacy‹ oder ›geplante Obsoleszenz‹ oder ›Meritokratie‹. Eigentlich bin ich permanent auf der Suche nach Worten, die mir die Welt erklären. Es gibt auch eine Liste mit den Texten, die ich in einem Jahr geschrieben habe. Die hängt in meiner Küche, weil ich häufig denke, dass ich nichts auf die Reihe bekomme und die größte Loserin unter der Sonne bin. Dann schaue ich mir diese Liste an und sage mir, nein, du hast im letzten Monat diese fünf Texte geschrieben, also chill. Und dann klebe ich mir auch viele Dinge ein. Hier hat es zum Beispiel gerade einen Papierschnitzel aus einem ZEIT-Interview mit der Autorin Chris Kraus, in dem die Person, die interviewt (Sarah Pines, Anmerkung der Redaktion), sagt: »Das erinnert mich an Philip Roth, der den Schreibprozess als Verzerrung der eigenen Biografie beschrieb, um aus dem eigenen Leben eine glaubhafte Lüge zu machen.« Und dann sagt Chris Kraus: »Genauso ist es. Das Leben schmeißt sich einem ins Gesicht und man muss es bearbeiten.«
Und solch ein Gedanke muss dann bewahrt werden.
Ja, denn ich finde, eines der größten Probleme heute ist, dass es zu viele Podcasts und Newsletter und Magazine gibt und ich möchte am liebsten alles lesen. Manchmal lese ich so viel, dass mir am Schluss doch alles wie durch ein Sieb durchflutscht und ich gar nichts bewahren kann. Ich klammere mich dann an einzelnen Sätzen oder Gedanken fest.
Aus dem ganzen Material und den vielen Listen entstehen dann deine Kolumnen?
Manchmal. Häufig wird auch gar nichts daraus. Ich denke, die Listen haben auch eine psychologische Komponente und mit meinem großen Kontrollbedürfnis zu tun. Man wird immer wieder von der Realität enttäuscht und Listen geben mir ein Gefühl von Kontrolle. Aber für eine der letzten Kolumnen habe ich zwei Jahre lang aus Zeitungen Theorien gesammelt, die neuropsychologisch erklären sollen, warum wir das mit der Klimakrise nicht hinkriegen und so träge bleiben. Dinge wie: wir können nicht mit dieser Art von Angst umgehen oder wir sind Herdentiere und, und, und. Aus diesen Thesen habe ich eine Kolumne gebastelt, in der ich mich frage, ob es nicht ein bisschen absurd ist, dass wir solche Erklärungsansätze ins Feld führen.
Wie lautete die Antwort? Hast du generell den Anspruch, in deinen Kolumnen Antworten anzubieten?
Das wäre ziemlich anmaßend. Viele Leute sagen ja über meine Kolumnen, dass man nach dem Lesen fast noch ein bisschen ratloser ist. Man weiß zwar etwas mehr, ist aber gleichzeitig auch doppelt so ratlos. Und die Kolumne hört so auf, dass ich sage, dass es das klassische Henne-Ei Problem ist. Braucht es Leute, die sich klimafreundlich verhalten und damit Druck auf die Politik ausüben? Oder braucht es eine Politik, die Rahmenbedingungen schafft, damit sich die Leute klimafreundlich verhalten können?
Gibt es gerade ein Konzept oder einen Begriff, der die Gegenwart für dich gut einfängt?
Weil ich gerade am Meer bin, denke ich viel über das Wort Solastalgie nach. Ein Naturphilosoph hat es in den Nullerjahren geprägt und es beschreibt ein Heimweh nach einer Umwelt, die es nicht mehr gibt, weil sie zum Beispiel durch die Klimakrise zerstört wurde. It’s heartbreaking. Ich lese zurzeit viel über die Schnittstelle zwischen mentaler Gesundheit und Klimakrise und möchte auch mein zukünftiges Arbeiten mehr in diese Richtung verlagern.
Schwebt dir da eine Kolumne vor, die du noch umsetzen möchtest?
Nein. Ich hätte Lust auf längere Stücke, bei denen man mehr in die Nuancen und Ambivalenzen von Themen reingehen kann. Eine Sache, die mich gerade sehr beschäftigt, sind die Narrative, die wir für die Klimakrise haben. Erzählen wir die Geschichte als Dystopie, weil die Angst einen bewegen kann, etwas zu tun? Oder brauchen wir eine positive Erzählung? Es gibt zurzeit einen riesigen Diskurs darüber, weil man sich überhaupt nicht einig ist, was eine sinnvolle Erzählung ist. Mich mit dieser Frage in einem längeren Text auseinanderzusetzen, dazu verspüre ich auch eine intellektuelle Lust. Ich bekomme aber immer noch so viel Resonanz für das Buch, dass es schwer ist, sich von diesem Projekt zu verabschieden und etwas Neues zu wagen. Aber es ist wichtig, nicht einfach das, was funktioniert hat, ewig weiter zu reproduzieren, sondern auch sich zu entwickeln. Und ich frage mich gerade, was das für mich heißen könnte.
Nina Kunz, 29, hat Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Zürich studiert und arbeitet als Journalistin und Kolumnistin. 2018 und 2020 wurde sie zur Schweizer Kolumnistin des Jahres gewählt. Eine Sammlung ihrer Kolumnen ist 2021 unter dem Titel »Ich denk, ich denk zu viel« bei Kein & Aber erschienen und steht seit über einem Jahr auf der Schweizer Bestsellerliste.
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