Ist das Alter doch nur eine Zahl?

Gemeinsam mit ihrer Schwester gründete Marie Krutmann 2017 das Magazin Almost. Im Gespräch erklärt sie, warum Berlin doch noch ein Literatur-Magazin gebraucht hat und warum nicht immer alles fest und perfekt in eine Richtung gehen muss.

Interview: Sophia Berger

Marie Krutmann
© privat

Anfangs hieß euer Magazin noch „Almost 30″. Wie kam es zu der 30 hinter dem Almost?

Als meine Schwester kurz vor ihrem 30. Geburtstag stand, kam ihr die Idee, ein Magazin zu erstellen, das alle ihre Gäste miteinander verbindet. Und weil sie vorfeiern wollte, lag der Name der Party und des Magazins auf der Hand: Almost 30.

Das Thema eurer ersten Ausgabe war Freundschaft – wie kam es dazu?

30 ist ein Alter, in dem man mit vielen Erwartungen konfrontiert wird – im besten Fall sollte man Karriere gemacht haben oder machen oder bereits Teil einer feste Partner*innenschaft sein. Manche Menschen haben geheiratet oder bekommen gerade ihr erstes Kind. Meine Schwester stellte jedoch kurz vor ihrem 30. Geburtstag fest: Mist. Irgendwie habe ich nichts von alledem. Sie hatte zu dem Zeitpunkt gerade ihren Job gekündigt, war Single und hatte entsprechend auch keine Hochzeit geplant – geschweige denn Kinder. Also fragte sie sich, worauf sie denn sonst stolz sein könnte. Das erste, was ihr einfiel, waren ihre vielen guten Freund*innenschaften. Und so entstand die Idee: Almost 30 – „The Friendship Issue“.

Ihre Idee für die Party war dann folgende: Jede eingeladene Person sollte einen Text über Freund*innenschaft und/oder über das 30-werden schreiben. Gerade, wenn man älter und vermeintlich erwachsener wird, verändern sich ja viele Freund*innenschaften, was ziemlich spannend zu lesen war. Ich habe ihr beim Aussuchen der Texte und beim Lektorieren geholfen. Eine Freundin übernahm das Grafikdesign.

Wusstet ihr zu dem Zeitpunkt bereits, dass ihr euer Magazin später vermarkten wollt?

Nein. Erst als wir die ersten Texte bekommen haben, haben wir deren riesiges Potenzial erkannt.


Wir haben gemerkt, wie erfrischend es ist, wenn die Menschen nicht viel Erfahrung mit dem Schreiben haben.

Dadurch haben wir wunderbar ehrliche Momentaufnahmen aus unterschiedlichen Ländern und mit verschiedenen Lebensentwürfen bekommen. Mittels Crowdfunding haben wir damals genügend Geld für den ersten Druck sammeln können. Ich glaube, dass unser Magazin sofort gut ankam, weil sich viele mit dem Gefühl, das das Magazin ausdrücken sollte, identifizieren konnten.

Was für ein Gefühl soll das sein?

Das Gefühl, dass man bereits erwachsen ist, aber noch nicht so erwachsen, wie man manchmal denkt, sein zu müssen. Ein Gefühl, das einem den Druck nehmen soll, sich festlegen zu müssen und die Freiheit zu geben, sich immer anders entscheiden zu können.

Ein Kampf gegen die Erwartungshaltung vorangegangener Generationen?

Ja, genau! Wir wollten, dass man sich durch die in unserem Magazin abgebildeten unterschiedlichen Lebensentwürfe stärker und zugehöriger fühlt. Da wir so viel Spaß dabei hatten, haben wir uns dazu entschieden, unser Magazin einmal im Jahr erscheinen zu lassen. Inzwischen befinden wir uns nach der Value Issue, der Secret Issue und der Space Issue im vierten Jahr.

Inzwischen heißt ihr auch nicht mehr Almost 30, sondern nur noch Almost. Was ist mit der 30 passiert?

Die 30 musste verschwinden, weil sie Menschen anderen Alters ausgeschlossen hat. Letzten Endes ist es doch nur eine Zahl. Und egal wie alt du bist – du kannst immer dieses Almost-Gefühl haben.

Seitdem schreiben und illustrieren auch Menschen für uns, die wir bis dato noch nicht kannten. Sie melden sich bei unserem jährlichen Open-Call und ich suche anschließend die besten Stücke aus. Dann bringen wir diese Texte mit den Illustrationen und den Fotografien zusammen. Somit vergrößern wir unseren Freund*innenkreis Stück für Stück und schaffen es, nebenbei immer mehr Menschen über das Magazin zu verbinden. 

Wie lautet das nächste Heftthema??

„Fun“. Dazu gibt es keine weiteren Vorgaben. Du könntest also ein Gedicht schreiben, einen Essay, eine Kurzgeschichte oder etwas Außergewöhnliches – Hauptsache, du kannst dich in deinem Format ausdrücken. Wichtig ist nur, dass es nicht ausschließlich journalistisch ist. Wir möchten keine Reportage und auch keine Interviews drucken.

In unserem Magazin geht es um persönliche Geschichten, durch die man etwas über die schreibende Person erfährt – sozusagen eine Momentaufnahme aus dem Leben eines anderen Menschen.

Was hat eigentlich der „contains nudity!“ Sticker auf der Rückseite des Magazins zu bedeuten?

Wenn man bei uns mitschreibt, macht man sich immer auch ein bisschen nackig – im emotionalen Sinne natürlich. Daher dieser leicht provokative Spruch: „contains nudity!“. Man muss bereit sein über Schwächen zu reden, sich verletzlich zu zeigen, einen persönlichen Einblick in sein Leben zu geben. Dadurch, dass wir alle das machen, wird das Magazin zu etwas Starkem.

Eine Frage, die ihr wahrscheinlich schon öfter zu hören bekommen habt: Warum habt ihr euch für Print entschieden und nicht etwa für einen Online-Blog?

Wir hatten alle einfach sehr viel Lust darauf, ein Print Magazin zu machen! Wahrscheinlich kam das durch den Gedanken, gerade weil zurzeit alles online stattfindet, etwas anderes zu machen und wieder zu Print zurückzukehren.

Es gibt aber auch noch einen anderen Grund: Wenn wir unsere Texte online veröffentlichen, würden diese einzeln für sich stehen und nicht in einem Kontext mit den anderen Texten gesehen werden. Uns geht es aber darum, Menschen miteinander zu verbinden; innerhalb eines sicheren Rahmens. Ein im Internet veröffentlichter Text ist jedoch schutzlos. Niemand weiß, was mit dem Artikel passiert. Vielleicht wird er geteilt oder weitergeleitet oder kommentiert? Dadurch ist die Angriffsfläche enorm vergrößert. In einem Print-Magazin bleiben die Texte mit den anderen Texten innerhalb ihres geschützten Rahmens und können nicht losgelöst hinaus in die Welt geschickt werden.

Wie mutig muss man sein, in einem Meer von Magazinen ein weiteres gründen zu wollen?

Das ist lustig, das hat uns unsere Mutter auch gefragt! Natürlich hat diese Frage ihre Berechtigung, aber wir haben aus dem einfachen Bedürfnis heraus gehandelt ein bisschen Spaß zu haben. Es ging uns gar nicht darum, ein weiteres Medium zu erschaffen.

In der Indie-Publishing Szene steht das Vernetzen und miteinander Arbeiten im Vordergrund, daher ist der Konkurrenzdruck sehr schwach. Wir sind einfach froh, Teil dieses kreativen Austausches sein zu dürfen.

Euer Magazin ist in einer 70s-Ästhetik gestaltet. Hat das etwas mit der Hippie-Bewegung zu tun?

Mit der Friendship Issue wollten wir ein Gefühl der Freiheit zum Ausdruck bringen. Wir wollen vor allem mit den an unsere Generation gestellten Anforderungen brechen. Es muss nicht immer alles fest und perfekt in eine Richtung gehen. Natürlich passt diese Motivation sehr gut zu dem Mindset der 70er Jahre und der Bewegung der Hippies. 

Euer Magazin ist außerdem mehrsprachig. Ist das ein Mittel, eure Community weiter zu vergrößern?

Vielleicht ist das typisch für Berlin, dass man Denglisch spricht? Unser Freund*innenkreis ist jedenfalls mehrsprachig. Für uns ist daher klar: Wer auf Deutsch schreiben möchte, schreibt auf Deutsch. Sollte die Muttersprache jedoch Englisch, Schwedisch oder Türkisch sein, darf man auf Englisch schreiben. Zwischen den Sprachen und Kulturen zu leben, überall auf der Welt arbeiten und leben zu können, gehört für uns eben auch zu diesem Almost-Gefühl.  Gleichzeitig vergrößern wir dadurch in der Tat auch unsere Leser*innenschaft, da wir Leute, die in Berlin wohnen, aber möglicherweise (noch) kein Deutsch sprechen, miteinbeziehen.

Wo sieht du Almost in drei Jahren?

Ich wünsche mir, dass es dann nicht mehr nur Almost – das Magazin geben wird, sondern dass wir zusätzlich auch einen kleinen Indie-Verlag gegründet haben. Natürlich wäre es super, wenn wir in drei Jahren auch eine höhere Auflage hätten und man uns in noch mehr Läden finden kann. Zurzeit laufen wir noch selbst in jeden Buchladen, um uns vorzustellen und  unser Magazin zu präsentieren. Oder wir werden von kleineren Shops angeschrieben, die uns cool finden. Aber einen Vertrieb oder einen Auslieferungsdienst, der uns in alle Buchhandlungen am Bahnhof bringt, haben wir leider noch nicht. Daher wünsche ich mir, dass wir in drei Jahren so bekannt und erfolgreich sind, dass man Almost einfach überall bekommen kann.

Marie Krutmann arbeitet als selbstständige Lektorin, Texterin und Redakteurin in Berlin. Sie studierte Skandinavistik, Germanistik und Angewandte Literaturwissenschaften und ist seit vielen Jahren im Literaturbetrieb tätig.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen