57 Gedichte, neun Poeten, sieben Sprachen: Das Poesiefestival Berlin eröffnete mit babylonischem Sprachgewirr.
Ein wenig ist es, als hätten sich hunderte von Menschen in einem Raum versammelt, um gemeinsam unter der Bettdecke zu lesen. Unzählige Lämpchen brennen im Dunkel des Studios in der Akademie der Künste, es herrscht konzentrierte Stille. Auf der Bühne steht Yang Lian, der etwas liest, was nach „tjodee sijun tschauschu“ klingt. Es könnte Bahnhof heißen. Oder auch „Auf asphaltiertem Meer ist ein Vogel in den Lüften so weiß wie eine arme Seele“.
Nicht umsonst heißt dieser Abend „Weltklang. Nacht der Poesie“. Alle geladenen Dichterinnern und Dichter lesen in ihrer jeweiligen Muttersprache – ohne Untertitel, ohne Simultanübersetzung. Damit wendet sich die Veranstaltung gegen den „Sprachmatsch“, wie er beim Grand Prix zu hören gewesen ist, erklärt Moderatorin Luzia Braun, gegen das immergleiche Englisch, das die Sprachunterschiede einebnet wie eine Dampfwalze.
Damit man dennoch eine Chance hat, im Konzert der Vielsprachigkeit inhaltlich etwas mitzunehmen, hatten die Veranstalter eine charmante Idee: Vorab wurden die deutschen Übersetzungen inklusive Leselämpchen verteilt. Und nun sitzen die Freunde der Poesie über die Anthologie gebeugt, die kleinen Funzeln geben gerade genug Licht für eine Fläche von 20 mal 20 Zentimetern, im Saal befinden sich hunderte von winzigen Leseinseln.
Auf diese Weise wird das Chinesisch von Yang Lian verständlich, obwohl von „verstehen“ immernoch nicht die Rede sein kann: Zu verschlüsselt sind die Verse des Dichters beim ersten Lesen, „nach einem Jahrhundert erst ist zu verstehen der schwarze Inhalt einer Uhr“, darüber muss man länger brüten. Eingängiger sind da die Liebesgedichte des Kanadiers Michael Ondaatje, vielleicht auch, weil das Englisch so schön vertraut klingt. Der Sohn wartet schon im Schlafanzug auf die „Bärenumarmung“, die Tochter wird im Schlaf bewacht von Hockeyspielern, die von den Wänden blicken. „Ich mag alle deine Fehler, sogar deine dunklen Launen (…) und wenn ich ‚mögen‘ sage, dann meine ich natürlich ‚lieben‘, aber das wäre dir peinlich.“
Beeindruckend ist die Lesung des Chilenen Raul Zurita, der mit seinem kraftvollen Spanisch den Raum füllt und mit dem Kopf rhythmisch auf und ab wippt. Folter, Vergewaltigung, Tod ziehen sich als Themen durch seine Text mit dem Titel „Lied an seine verschwundene Liebe“. Ein politisches Statement ebenso wie ein persönliches Klagelied, der Applaus huldigt dieses Engagement. Etwas stiller geht es zu bei Autor und Hanser-Verleger Michael Krüger, die Leselämpchen gehen aus. Besonders bewegend: Die Erinnerungen an den Großvater, der die Kartoffeln mit den Händen ausgräbt, der mit seinem Glasauge nach innen sehen kann und der auch nach der Enteignung an Gott glauben will.
Festivalatmosphäre kommt auf, als die Israelin und Lautpoetin Anat Pick auf der Bühne steht. Sie liest nicht nur, sondern produziert mit Körper, Lippen und Stimme ein Netz aus Lauten und Rhythmen. „pRus Kar du BeDesk, KurDa Boiy-Da far“, das ist Dada in Reinstform. Hier braucht man keinen Text zum mitlesen, Klang und Melodie sind universal verständlich. Wer hier das Leselämpchen ausmacht, dem entgeht jedoch etwas: Die Notation der Laute zeigt die Regelhaftigkeit der Komposition und macht es noch unfassbarer, in welcher Geschwindigkeit die Autorin vorträgt.
Es ist schon fast Mitternacht, als Nina Kibuanda mit französischer Slam Poetry den Abend beschließt. In ihrer Länge war die Veranstaltung ermüdend, der Zuschauerraum leerte sich schon nach der Pause merklich. In ihrer Vielfalt der Sprachen, Themen und Stimmungen hat die Nacht der Poesie aber tatsächlich die Welt zum Klingen gebracht. Zuhause kann es dann weitergehen, unter der Bettdecke mit Leselämpchen.
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