Im Pflanzen-Dickicht: Der koreanischen Autorin Han Kang gelingt mit Die Vegetarierin ein traurig-schräger Blick auf das Mensch-Natur-Verhältnis.
Eine Literatur-Kritik von Tobias Kluge
Wir alle haben sie, wir alle lieben sie: Zimmerpflanzen. Ein grüner Lichtblick in der Home-Office-Hölle, ein winziges Fenster in das Landleben, das wir eines Tages führen möchten. Wir schätzen unsere Photosynthese betreibenden Mitbewohner gerade wegen ihrer Genügsamkeit: Ein bisschen Sonne, ein Schluck Wasser, vielleicht eine Prise Dünger. Fertig. Doch schlummert da nicht vielleicht auch so etwas wie ein Charakter in der Yucca-Palme, die ihre Blätter so schön der Sonne entgegenstreckt? Vielleicht. Aber eine Pflanze als ausgewachsene Antiheldin im Kampf gegen das Patriarchat? Never! Die koreanische Autorin Han Kang belehrt uns mit ihrem Man-Booker-prämierten Roman Die Vegetarierin kongenial eines besseren.
Träume aus Fleisch
Yong-Hye ist das, was in Korea als perfekte Ehefrau gilt – folgsam, unauffällig und still. Wie eine Yucca-Palme. Ihr Mann ist zufrieden: „Ihr Mangel an Ausstrahlung, ihr fehlender Esprit und Charme, kam mir im Grunde genommen sehr gelegen.“ Das Paar lebt eine unauffällige Ehe. Doch Yong-Hye verändert sich: Alpträume voll Blut, Verwesung und Gewalt suchen sie heim. Fleisch stößt sie urplötzlich ab, seine pure Präsenz ist unerträglich. Ihre simple, wie folgerichtige Antwort lautet: Fleischverzicht. Was von ihrer Familie zunächst als bockige Phase bzw. Life-Style abgetan wird, erwächst rasch zu einem handfesten Problem für alle Beteiligten. Denn die Patriarchen der Familie können nicht akzeptieren, dass eine Frau den Konsum von Fleisch kategorisch ablehnt. The Korean way of life is not negotiable!
Südkorea hat ein Fleischproblem: Der durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum hat sich in den letzten dreißig Jahren vervierfacht – dank des steigenden westlichen Einflusses. Jede*r Koreaner*in konsumiert im Schnitt 62,2 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Reis verliert als Grundnahrungsmittel an Bedeutung. Das beliebte Schwein wird praktischerweise vom Exportweltmeister Deutschland angekarrt. Tierische Produkte gelten als Attribute von Wohlstand und Sorglosigkeit. Es ist dieses karnivore Selbstverständnis, in das Kangs Roman und seine Protagonistin mit Urgewalt hineinintervenieren.
Die Hutschnur des Patriarchats
In einer der eindringlichsten Szenen eskaliert ein Familienessen: Yong-Hye lebt erst seit kurzem vegetarisch, dementsprechend optimistisch ist die Familie, sie mit sanftem Druck auf den Weg der Fleischfresserei zurückführen zu können. Doch weit gefehlt. Die schon merklich abgemagerte Yong-Hye schlägt alle fleischbasierten Leckerbissen aus und ignoriert stoisch die gesundheitlichen Bedenken ihrer Verwandtschaft. Schließlich platzt ihrem Vater die patriarchale Hutschnur: „Iss! Gehorche deinem Vater und iss! Ich sage dir das in deinem eigenen Interesse. Du wirst sonst ernsthaft krank.“ Männer, die wissen, was für Frauen gut ist? Ein misogyner Klassiker. Als auch der finale väterliche Versuch scheitert, der Tochter mit Gewalt Fleisch einzuverleiben, greift Yong-Hye ihrerseits zum letztmöglichen Mittel: Gewalt gegen den eigenen Körper – Obstmesser-Handgelenk-Aufschlitzen-Splatter-Style.
Kang erzählt die kompromisslose Verweigerungs-Rebellion ihrer Protagonistin in klarer, schnörkelloser Sprache. Ihre literarische Menschen-Vermessung schwebt wie eine Drohne über dem Geschehen: distanziert und allzeit bereit zuzupacken. Kein Satz zu lang, kein Gedanke zu blumig. Altmeister wie Kafka und Murakami planieren die sprachlichen und gedanklichen Pfade, auf denen Kang ihre Figuren immer tiefer in ihre Abgründe treibt. Mitunter gerät diese Sprache in ihrer Schlichtheit etwas spröde und trocken, verfehlt aber als Ganzes ihre unheimliche Sogwirkung nicht.
Gewalt gleich Gewalt?
Die verstörende Gewalt der Obstmesser-Szene entpuppt sich als eine Hauptzutat des Romans. Doch Kang macht es einem in keiner Sekunde leicht: Die Gewalt ist niemals monokausal, niemals einseitig. Glaubt man in der Obstmesser-Szene noch relativ leicht sagen zu können, wer das Problem ist, fächert der Roman ab nun die unterschiedlichsten Ebenen von struktureller und individueller Gewalt weit und unerbittlich auf. Yong-Hye weigert sich weiterhin konsequent Fleisch zu essen, lebt strikt vegan – und nimmt irgendwann gar keine Nahrung mehr zu sich. Sie verliert jeden Halt, gerät ins gesellschaftliche Aus und endet an den Schläuchen künstlicher Ernährung. Und auch diese reißt sie sich erbarmungslos heraus. Das ist schwer auszuhalten. Man möchte ihr verzweifelt zurufen: Bitte, bitte iss endlich etwas! Der Patriarch in uns lässt grüßen. Aber hat er nicht auch ein bisschen Recht?
Irgendwann enthüllt Yong-Hye den eigentlichen Sinn ihrer Verweigerung: „Ich brauche kein Essen mehr. […] Ich brauche nur eine Injektion mit Wasser.“ Sie glaubt zur Pflanze zu mutieren und möchte allein von Wasser, Luft und Sonnenlicht leben – in absoluter Harmonie mit ihrer Umwelt. Dass dieser Plan in einer Welt des Raubtierkonsums und der Naturbeherrschung aneckt, ist das eine. Dass er biologisch Yong-Hyes Tod bedeutet, das andere. Nüchtern fragt sie: „Ist es denn verboten zu sterben?“ Ihre radikale Gewaltlosigkeit mündet in radikaler Gewalt gegen den eigenen Körper. Und hier liegt wohl der größte Clou dieses Stücks Literatur: Es verwischt schmerzhaft die Grenzen zwischen fremd und selbst, zwischen gut und böse. Ist es klug, sich selbst zu zerstören, um anderen etwas zu beweisen? Um die Welt zu retten? Um die moralische Oberhand zu behalten?
Spätkapitalistische Traurigkeit
Doch um all das geht es Yong-Hye höchstwahrscheinlich gar nicht. Was genau sie motiviert, bleibt überhaupt eine mysteriöse Leerstelle. Ihre Verwandlung dient vielmehr ihren direktesten Mitmenschen als Katalysator und Spiegel. Und so ist es ein kluger dramaturgischer Griff, dass die drei Romanteile von wechselnden Ich-Erzähler*innen erzählt werden, die zusammen einen kaleidoskophaften Außenblick auf Yong-Hyes Verschwinden werfen. Da wäre ihr opportuner Mann, der seine aufmüpfige Frau um seiner Karriere willen opfert. Da wäre außerdem ihr verkappter Künstler-Schwager, der den verschwindenden Körper der Schwägerin für ein erotisches Kunst-Abenteuer kolonisiert. Und da wäre schließlich ihre Schwester, die im Angesicht von Yong-Hyes Radikalität die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz zu erahnen beginnt. Über diesen drei Untoten schwebt eine mächtige Glocke spätkapitalistischer Traurigkeit, der Yong-Hye schon längst entkommen zu sein scheint.
In einer Zeit, in der die Fleischindustrie einen Großteil der CO2-Emissionen verantwortet, legt Han Kang mit Die Vegetarierin schonungslos den Finger in die Wunde unserer Ernährungskultur. Yong-Hyes Metamorphose zur Pflanze leistet dabei einen philosophisch schönen wie provokanten Perspektivwechsel: Sie macht es radikal notwendig, über die menschliche Vormachtstellung auf dem Planeten nachzudenken. Wenn Sie also das nächste Mal einer Yucca-Palme über den Weg laufen, bieten Sie ihr doch einfach einen Schluck Wasser an. Und dann gehen Sie friedlich ihrer Wege. Die Pflanze wird es Ihnen danken.
Han Kang: Die Vegetarierin, Aufbau Verlag, 2016
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