Wenn Mama schreiben geht, kann Otto nicht allein zu Hause bleiben, sagt Laura Dshamilja Weber. Im Gespräch erzählt die Lektorin über ihre Zeit als New Yorker Scout, über Ungerechtigkeiten in der Buchbranche und darüber, wie sie alte Freunde in Buchhandlungen trifft.
Als Scout warst du Expertin im Suchen nach guten Büchern. Wie fühlt es sich an, wenn du ein gutes Buch entdeckst?
Als Scout lernt man für andere zu lesen. Es geht in erster Linie darum, welches Buch die Kund:innen toll finden. Es kommt vor, dass ich den Geschmack einer Lektorin nicht unbedingt teile, aber beim Lesen eines Manuskripts sofort weiß, dass es zu ihr gehört. Dann freue ich mich total, lese mit ihren Augen und bin begeistert, dass es so gut passt. Wer viel liest merkt schnell, wenn ein Text besonders, vielleicht sogar einzigartig ist. Man fängt an zu lesen und zoomt mehr und mehr aus seiner Gegenwart heraus, lässt alles stehen und liegen. Manchmal passiert das sogar, wenn ein Text aufgrund seines Genres oder seiner Erzählstruktur eigentlich nicht meinem persönlichen Geschmack entspricht. So zum Beispiel bei „Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens. Als ich anfing, das Manuskript zu lesen, habe ich mich sofort in die Protagonistin verliebt. Sie hat so viele Erinnerungen und Kindheitsträume in mir erweckt. Eine solche Beziehung zu einem Text aufzubauen ist oft der erste Schritt.
Du arbeitest seit Oktober als Lektorin für Hanser Berlin, vorher war es nur ein Verlag von vielen, für die du gescoutet hast. Fühlt es sich einschränkend an, mit einem klaren Verlagsprofil zu suchen?
Ehrlich gesagt ist es etwas einschüchternd. Klar kann man einen Text gut finden, aber ist man wirklich bereit, die Verantwortung für Text und Autorin zu übernehmen? Als Scout konnte ich links und rechts mit Empfehlungen um mich werfen, „das müsst ihr machen, das ist das beste Buch“. Ich musste nie die Konsequenzen dafür tragen. Das finde ich gerade ziemlich unheimlich (lacht). Ich bin aber zuversichtlich, dass sich meine innere Unruhe bald legt. Dann wird es sicherlich total schön hinzuhören, was ich eigentlich will, welche Texte, welche Stimmen.
Wenn du Scouting und Lektorat vergleichst, was ist das Spaßigste und das Nervigste am jeweiligen Job?
Am Scouting habe ich geliebt, dass ich so viele verschiedene Texte kennenlernen durfte und immer zwei Jahre in der Zukunft war. Wenn ich heute durch eine Buchhandlung gehe, fühlt es sich so an, als würde ich all meine Freunde von früher treffen. Toll war auch das große internationale Netzwerk. Ich bin jedes Jahr auf die Buchmessen in Frankfurt, London und Guadalajara geflogen. Es war immer wie ein großes Klassentreffen, mit Partys am Abend… natürlich gibt es auch viele tolle Bücher (lacht)! Aber es geht vor allem um die internationale Gemeinschaft. Außerdem ist man als Scout gefühlt der einzige Akteur in der Verlagswelt, der ehrlich sagen kann, was er denkt; der Bücher nicht vermarkten muss, der niemandem gegenüber diplomatisch auftreten muss. Ich konnte einfach sagen: „Guckt es euch nicht mal an, das ist Schmarrn!“, um dann das eine Juwel zu finden und richtig abzufeiern. Das war eine gute Schulung und sehr befreiend.
Das klingt ja durchweg positiv – warum dann der Wechsel?
Das Lesen allein hat mich nicht mehr zufriedengestellt. Im Scouting liest man zu 90%, im Lektorat nur zu 10%, wenn ich ein paar vage Zahlen anführen darf. Dafür leisten Lektor:innen viel mehr kreative Arbeit im Entstehungs- und Vermarktungsprozess eines Buches. Von Paratexten, über gestalterische Fragen beim Cover bis hin zu wie geht’s eigentlich der Autorin? Als Lektorin hat man einen so vielfältigen Aufgabenbereich… aber ich hatte keinen Schimmer, wie chaotisch es zugeht. Gerade habe ich das Gefühl, ich bin von einer strukturierten Leserin zu einem kopflosen Huhn geworden (lacht). Ich kann noch nicht priorisieren und springe von einer Aufgabe zur anderen. Glücklicherweise scheint das allen Lektorinnen so zu gehen, die ich um Rat bitte. Ich höre immer, man könne den Tag nicht im Voraus planen. Was schön ist, das macht es ja erst so lebendig.
In deiner Zeit als Scout hast du eine Bandbreite an Buchmärkten weltweit kennengelernt. Gibt es ein Phänomen, das gerade alle Verlage international umtreibt?
Es ist die Masse an Büchern, die alle beschäftigt. Wie müssen Bücher platziert werden, damit sie von den Leser:innen gefunden werden? Besonders krass ist das in den USA. Bücher haben nach Erscheinen circa zwei Wochen Zeit, um Aufmerksamkeit zu bekommen, ansonsten gehen sie unter. Und wo finden Leute Bücher? Leider vor allem auf Amazon. Klar, in den Städten gibt es Buchhandlungen, die Leser:innen zu den Büchern hinführen. Aber oft sind das kleine, bourgeoise Blasen. Man braucht sich nur mal die Geographie der USA vor Augen führen, die Menschen leben über das ganze Land verstreut. In vielen Orten gibt es schlicht keine Buchhandlungen. Bücher online zu kaufen erfordert bereits ein gezieltes Interesse an dem Produkt. Dann nimmt man halt, was der Algorithmus vorschlägt. Oder es wird einfach gar nicht gelesen. Das ist in Deutschland nicht so. Das Problem der gebündelten Aufmerksamkeit für einzelne Bücher existiert hier trotzdem, wenn auch in kleinerem Ausmaß.
Wie sieht es mit gemeinsamen Themen aus?
Die Inhalte sind sehr länderspezifisch. Meine Arbeit als Scout war vor allem von den Interessen westlicher Leser:innen geprägt, den stärksten Kontrast hierzu stellte unser chinesischer Kunde Imaginist Press dar. Der Verleger hat vor ein paar Jahren ein Buch gegen die Zensurauflagen verlegt und ist für Monate verschwunden. Dort und auch in Brasilien, wo wir mit Todavia Livros gearbeitet haben, kann Verlegen zu einer Form von politischem Widerstand und Aktivismus werden, wie es in westlichen Nationen heute kaum mehr der Fall ist. In den USA, Großbritannien, Deutschland etc. spielt Diversität eine große Rolle. Aus China hingegen hören wir: „Wir können keine Bücher zum Thema Homosexualität machen, es wird gerade alles zensiert“.
Es gibt aber selbstverständlich auch innerhalb Europas Unterschiede. Als 2015 die große Flüchtlingswelle Europa erreicht hat, haben amerikanische Scouts damit gerechnet, dass Texte zur US-amerikanischen Migrationsgeschichte auch jenseits des Atlantiks auf Resonanz stoßen würden. Da sagten unsere polnischen und ungarischen Kund:innen: „Auf gar keinen Fall irgendwas mit Migration“. Es ist sehr interessant, welche politischen Sensibilitäten bestehen und wie sie sich in den verlegten Büchern widerspiegeln.
Wenn du den amerikanischen Buchmarkt betrachtetest, was ist die größte Chance?
Die amerikanische Gesellschaft ist aufgerüttelt, vor allem durch die katastrophale Amtszeit von Donald Trump, aber auch durch MeToo-Skandale wie Harvey Weinstein, Jeffrey Epstein, Lockhart Steele etc. Es gibt ein enormes Potential für strukturellen Wandel. Ich beobachte das mit großer Hoffnung, weil die verhärteten Strukturen nur weißen Männern gedient haben. Es sind schon einige Köpfe gerollt, große Verleger wurden durch BIPoC-Frauen ersetzt. Wenn neue Stellen besetzt werden, wird sehr darauf geachtet, wie divers die Kandidat:innen sind und wer wen einstellt. Natürlich wird das auch die Bücher verändern, die veröffentlicht werden. Es dauert, aber wir sehen jetzt schon eine Veränderung.
Wie divers eine Branche ist, hat auch etwas mit Einstiegsbedingungen zu tun. Wie stehst du zu unbezahlten Praktika?
Ich höre immer wieder Argumente, weshalb Praktikant:innen nicht bezahlt werden und sie sind allesamt Bullshit. Es kann nicht darum gehen, das Geld einzusparen, der Mehrwert jeder Praktikantin ist so offensichtlich. Stattdessen werden Praktika auf drei Monate beschränkt, damit nichts gezahlt werden muss – wirklich traurig. Natürlich ist das mitverantwortlich für eine sehr homogene Verlagswelt. Gerade sieht es nämlich so aus: Wer von seinen Eltern während der Ausbildung nicht finanziell unterstützt werden kann, dem wird diese Welt verschlossen bleiben. Das führt dazu, dass alle, die wir hier zusammensitzen, Leute sind, die schon immer lesen, Leute sind, die kein Prekariat kennen. Ich denke viel darüber nach, wie man das verändern kann. Ich könnte mir einen Fonds vorstellen, in den die Verlage einzahlen. Auf diesen könnten sich Praktikant:innen bewerben, denen die finanziellen Mittel fehlen. Wenn dir etwas einfällt, lass es mich wissen!
Die deutsche Buchbranche ist zwar sehr weiblich, nichtsdestotrotz werden weniger Bücher von Schriftstellerinnen veröffentlicht und besprochen als von deren männlichen Kollegen. Wie erklärst du dir dieses Ungleichgewicht?
Im Literaturstudium wird fast ausschließlich ein männlicher Kanon gelesen. Mit dieser Prägung starten Literatur- und Kulturschaffende ins Berufsleben, das gilt für Lektor:innen ebenso wie für Rezensent:innen und Juror:innen. Man sagt doch immer, man müsse seinen internalisierten Sexismus aktiv und jederzeit bekämpfen. Frauen einzustellen reicht also nicht aus, denn auch wir sind von patriarchalen Strukturen geprägt. Wir müssen uns bewusst einem feministischen Auftrag verschreiben. Das passiert noch nicht genug.
Und das Ganze hat auch etwas mit dem Bild zu tun, das wir vom Schreiben haben. Denken wir zum Beispiel an die Residenzen, auf die sich Schriftsteller:innen bewerben können. Da plant niemand, dass du dein Kind mitbringst. Wenn du aber neben Schriftstellerin auch alleinerziehende Mutter bist, kannst du nicht sagen: „So, Otto, die nächsten zwei Wochen schaffst du alleine, Mama geht schreiben.“ Das schreibende System ist auf Männer ohne familiäre Verpflichtungen ausgelegt. Hinzu kommt die anhaltende Trivialisierung von weiblichen Stimmen, die mich zunehmend wütend macht. Wenn eine Frau über etwas Privates, Häusliches, also etwas Existenzielles schreibt, wird es von Männern nicht gelesen. Dann ist sie eine Frau, eine Mutter, die schreibt, keine Schriftstellerin. Das ist ganz tief verwurzelt, auch in den Leser:innen.
Um noch einmal zu dir zurückzukommen, welches Buch hättest du gerne entdeckt, lektoriert und veröffentlicht?
Oho, da gibt es ein Buch, das mein Herz gebrochen hat. Also erstmal hat es mein Herz erobert, wie das so ist. Und dann hat sich Hanser Berlin dagegen entschieden, nur ein paar Monate, bevor ich mich dem Team angeschlossen habe. Das Buch heißt „Luster“. Ich würde es als Postantirassismus-Buch bezeichnen. Die Autorin Raven Leilani hält sich nicht mehr damit auf zu erklären, inwiefern unsere Gesellschaft rassistisch ist. Stattdessen kreiert sie sehr kluge Szenen, in denen weiße Menschen den absurden Tanz mit ihrem reflektierten Rassismus eingehen. Sie sind dabei unglaublich unbeholfen und zerbrechlich in ihrer Selbstwahrnehmung, wollen alles richtig machen und merken nicht, dass sie nur ihrer selbst willen politically correct sein wollen. Raven Leilani hat eine beispielslose Beobachtungsgabe für diese Atonalitäten im Alltag, sie spürt sie auf, legt sie bloß und hält sie einem direkt unter die Nase, sodass man nicht weggucken kann. Man fühlt sich so unwohl und ertappt, dass man unweigerlich daran wächst. Mutig, radikal, kompromisslos – so ist dieses Buch.
Laura Dshamilja Weber hat Europäische Literaturen in Berlin, Salamanca und London studiert und war seit 2016 als Literaturscout tätig. In dieser Funktion arbeitete sie zuletzt bei Edmison/Harper Literary Scouting in New York unter anderem für die Verlage Hanser, Gallimard, Anagrama und Feltrinelli. Seit Oktober 2020 ergänzt sie als Lektorin das Team von Hanser Berlin.
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