England 1946: Der sechzehnjährige Robert Appleyard beschließt, einmal noch die offene See zu sehen, bevor er den Rest seines Lebens unter Tage arbeiten muss. Auf seiner Wanderung trifft er auf Dulcie Piper, welche ihn seine düstere Zukunft einmal mehr in Frage stellen lässt. Ist für ihn ein Leben abseits von Wohlanständigkeit und Pflichterfüllung vielleicht doch noch möglich?
„Ich war sechzehn und frei und hungrig.“
Es ist das erste Jahr nach dem Krieg als Robert seine Heimatstadt verlässt. Ein Rucksack mit dem Allernötigsten und eine alte Mundtrommel sind seine einzigen Begleiter. Und so führt ihn sein Weg fort von der erdrückenden Enge der Schulbank, hin zur malerischen Natur Englands, über Felder und Bauernhöfe, auf denen er sich gegen etwas Arbeit einen Schlafplatz erkauft. Mit der Natur auf Tuchfühlung sinniert er über sein Leben, bis ihn seine Wanderung eines Tages zum Cottage einer älteren, sehr großen Dame führt.
Die Frau war groß, knapp einen Meter achtzig, ihre Haltung keck und unverfroren, stolz, was sie nur noch größer wirken ließ, und obendrein würdevoll. Ihr Gesicht war hager und katzenartig, die Wangenknochen markant, die Kieferpartie kräftig. Ihr Mund wirkte breit – fast zu breit für ihr Gesicht – und mit den leicht nach oben gezogenen Winkeln ebenfalls katzenhaft. Er ließ ein unterdrücktes Lächeln erahnen.
Dulcie Piper lebt allein in ihrem Haus mitten in der prachtvollen Idylle eines englischen Küstenortes. Doch klischeehaft wirkt sie dabei keineswegs. Sie ist schlau, hat viel Witz , ein Geheimnis und einen Schäferhund. Sie ist weltgewandt und gebildet. Ihr loses Mundwerk bringt Robert regelmäßig zum Erröten und sie ist im Besitz einer schier unerschöpflichen Speisekammer mit exquisiten Köstlichkeiten, zahllosen Weinen und noch mehr Spirituosen. Und dann ist da noch ihr außergewöhnlicher Geschmack für seltene Literatur. Alles in allem völliges Neuland für den jungen Robert.
„Als armer Gast im Haus einer Fremden und umgeben von all diesem Überfluss, fühlte ich mich überwältigt, irgendwie losgelöst, als wäre ich unversehens in ein Bild oder ein Gemälde geraten.“
Robert zeigt sich wie gewohnt für Kost und Logis erkenntlich und übernimmt die Gartenarbeit. Dulcie wartet im Gegenzug mit Cocktails, Fisch und Bratkartoffeln auf, mit Buchempfehlungen und Weisheiten. Letztere erzählen von einem gelebten Leben voller Schmerz, Liebe und Mut.
„Sechszehn ist kaum noch eine Erinnerung für mich. Sechszehn ist ein fremdes Land. Sechszehn ist eine Fotografie in einem Koffer, der vor langer Zeit in einem Zug Richtung Orient vergessen wurde. Manche mögen behaupten, es sei absolut beneidenswert, so viel Zeit vor sich zu haben, aber wenn ich die Chance hätte, noch mal so jung zu sein, würde ich es nicht wollen. Zumindest jetzt nicht.“
„Warum denn?“
„Tja, ich bin nur ungern der Wermutstropfen im unverdorbenen Teich jugendlicher Reinheit, aber noch mehr Kriege scheinen unvermeidlich. Noch mehr männlicher Schwachsinn.“
Und so geht es eine ganze Weile. Obwohl Robert seine Wanderung längst fortsetzen wollte, begeben sich beide in eine Art Abhängigkeit, eine sonderbare Beziehung. Während Robert Dulcies Garten von Unkraut befreit, gibt diese ihm unkonventionelle, unerhörte und große Gedanken mit auf den Weg. Literatur, Kunst, und gutes Essen wecken Roberts Lebensneugierde auf eine ganz andere Zukunft, als jene, die ihn erwartet.
Eines Tages, während Robert den alten Schuppen am Ende des Gartens restauriert, stößt er auf ein Bündel Gedichte. Und damit auf das Geheimnis, welches seine Gastgeberin so akribisch vor ihm verborgen hält. Bei den Gedichten handelt es sich um Manuskripte der Lebensgefährtin Dulcies und bei dem Schuppen um deren altes Atelier. Mit den glasklaren Gedichten (welche den Leser:innen zum Glück nicht vorenthalten werden) und den brandygeschwängerten Gesprächen zwischen Robert und Dulcie tut sich uns die Landschaft einer außergewöhnlichen, intensiven Liebesbeziehung zweier Frauen auf. Die 264 Seiten des Buches fliegen nur so dahin, ehe es viel zu früh zu Ende geht.
In Offene See gelingt es Benjamin Myers mit seiner dichten und dennoch klaren Sprache, die Leser:innen in eine kurzweilige Geschichte über den Sommer eines jungen Engländers und die komplexe Vergangenheit einer lebensmutigen Frau abtauchen zu lassen. Mehr als einmal führt er die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges vor Augen, um nur kurz darauf die Schönheiten und Üppigkeit der wilden Natur, des gedruckten Wortes und des guten Essens wieder hervorzuheben. Satter Hummer und Champagner stehen leeren Speisekammern der Bergbauarbeiter gegenüber, die Lebensfülle der Natur den vielen Toten, die der Krieg hervorgebracht hat.
Wir begleiten einen Jungen, dessen Zukunft trüb und fremdgesteuert ist, dabei, wie er Lebensmut fasst und einen eigenen Willen entwickelt – und eine genaue Vorstellung, welches Leben er seines nennen möchte. Eine bessere Mentorin als die lebensmutige, verletzte und starke Dulcie Piper hätte er bei diesem Weg nicht haben können.
Offene See von Benjamin Myers ist eine ausgewogene Komposition. Sie ist mit dem richtigen Maß an Poesie, Witz und Abenteuer versehen und macht große Freude zu lesen. Dabei gibt sie aber auch Einblick in die vielschichtige Psychologie der Menschen in der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. In ihre Wünsche, Ängste und Denkweisen. Mit dieser Rezeptur gelang es dem Werk zurecht, das Lieblingsbuch der Unabhängigen in der Woche der unabhängigen Buchhandlungen 2020 zu werden. Große Leseempfehlung!
Benjamin Myers Offene See ist 2020 bei DuMont erschienen.
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