Ein Manifest für die Intuition

In Die Kunst sich zu verlieren. Ein Wegweiser sucht Rebecca Solnit nach der Besonderheit im Ungewissen. Ungezielte Wege entlang breitet sie eine Erzähllandschaft aus, in der sich das Verlieren dramaturgisch reflektiert.

© Julia Walser

Das Schauen in ein Kaleidoskop lässt eine Mitte erkennen. Ein Fixpunkt, der die Trance aus Glimmer-Farben in schwammigen Formen bricht. Um nicht unterzugehen, wenn am optischen Kindergerät gekurbelt wird. Denn Wahrnehmung ohne Überblick heißt Kontrollverlust. Rebecca Solnit hat mit Die Kunst sich zu verlieren. Ein Wegweiser ein kaleidoskopisches Plädoyer für den Kontrollverlust geschrieben. Entstanden ist ein neunfach untertitelter belletristischer Essay, der ohne Dreh- und Angelpunkt einer These auskommt. Eine Art Fixpunkt gibt’s trotzdem – ein Thema, das eine vermeintliche Richtung angibt: das (Sich-) Verlieren. Von da aus geht‘s los.

Seit Jahren schon spielt das Thema für die Essayistin und Kulturhistorikerin eine Rolle. Dank dem Verweis einer Studentin auf ein bedeutendes Stück Philosophie aus dem antiken Griechenland abermals konkreter: „Auf welche Weise willst du dasjenige suchen, wovon du ganz und gar nicht weißt, was es ist?“. Was Menon im platonischen Dialog von Sokrates erfahren wollte, treibt auch die Autorin an, wird für sie zur taktischen Grundfrage im Leben.

Planung, Geld, Powerbank, Religion, Sparen, Regenstiefel, Sonnencrème, Wetter-App, Karte. Das Leben lässt sich organisieren, schön und gut. Nur – und hier setzt Solnit an -, was, wenn wir irren oder uns die Sicherheit genommen wird?

Das Lesen fühlt sich an, als befände man sich auf einer Expedition über knapp 200 Seiten. Vertrauen abgegeben, erwartungsvoll. Rebecca Solnit spürt dem Verlieren nach. Auf der Suche lässt sie sich treiben, schlägt unvermittelte Richtungen ein und begeht abgelegene Wege. Sie führt auf einen immer breiter werdenden Pfad, der zwischen Erinnerung und Faktizität in voneinander unabhängige Richtungen zerfließt. Dabei begeht sie die Zeit, passiert Gegenwart und gedehnte Vergangenheit, durchquert wechselnde Orte und greift auf verschiedene Disziplinen zurück. Ohne formgebundenen Maximen zu folgen, kreisen Solnits Gedanken kaleidoskopisch um ihren Kern: Was bedeutet es, sich selber zu verlieren?

Und konkret?

Immer wieder lenkt Solnit auf die wortwörtliche Bedeutungsdimension des Begriffes Verlieren. Verlieren kann alles betreffen, was plötzlich weg sein kann. Während auf Verluste verschiedenste (emotionale) Reaktionen folgen, kann Verlieren auch unbemerkt bleiben. Dann ist manchmal das Finden interessant, das den nötigen Anstoß gibt und an den unbemerkten Verlust erinnert. So, als fände man ein verloren gegangenes Stück von sich selbst oder würde auf einem vergilbten Foto etwas Bedeutsames nach langem Ansehen endlich erkennen.

Schnell wird klar, Verlieren ist nicht nur persönlich, es lässt sich auch überall irren.

Solnit erinnert an verirrte Wandergruppen und an unser schwindendes „natürliches“ Navigationssystem in einer fremder werdenden Natur. Sie recherchiert die längst verlorenen Leben ihrer Vorfahrinnen und erzählt vom Verloren-Sein in der Wüste als Moment der Kreativität und Introspektion. Träume sind für sie ein Gegenbeweis zum Verlust: Wie kann das verloren sein, was unterbewusst wie in einem Safe gespeichert liegt?

Metamorphose

Worauf Solnit hinaus will: Es ist wichtig, hin und wieder vom Weg abzukommen. Gemeint vor allem im übertragenen Sinne: Verlieren betrifft nicht nur Dinge, sondern Ziele und Wünsche, Stimmungen, Zeit, Orte oder geliebte Menschen. Solche Verluste können sich wie das Abhandenkommen der eigenen Identität anfühlen. Was aber schmerzt, ist auch verheißungsvoll, birgt in sich das Potenzial des Neuen. Solnit entfaltet eine buddhistische Weisheit: können Verluste angenommen und die Irre ausgehalten werden, wird die Metamorphose eingeleitet. Nur so können wir uns verändern und weiterentwickeln.

Solnit ist eine vielfach ausgezeichnete Essayistin. Bekannt ist sie für ihr breites Interessensfeld und ihren Aktivismus in den Bereichen Umwelt und Feminismus. Nach dem Erfolg des 2014 erschienenen Essaybands Men Explain Things to Me wurde ihr eine Vorreiterinnenrolle bei der Entstehung des Begriffes mansplaning zugeschrieben. Als politisch engagierte Kulturhistorikerin scheint ihr das sensible Beobachten und genaue Argumentieren im Blut zu liegen. Ein Können, das sie in Die Kunst sich zu verlieren. Ein Wegweiser dennoch auf ungewohnte Weise unter Beweis stellt.

Wer zum Beispiel Solnits Kurzessay The Longest War (2013), eine von quälenden Fakten getragene Dokumentation über systematische Gewalt an Frauen, gelesen hat, lernt in Die Kunst sich zu verlieren. Ein Wegweiser eine ganz andere Autorin kennen. Statt gegliederter Tatsachen begleitet den Essay ein beständiges Gefühl des Loslassens.

Solnits Schreibstil ähnelt dem Herumtreiben in alten Ruinen längst verlassener Gebiete. Traumwandlerisch, als würde sie sich rein intuitiv in die Richtung möglicher Antworten vortasten. Auf diese Weise spiegelt sich das Sich-Verlieren in ihrem Schreiben – ein wunderschöner und eindrucksvoller Effekt.

Performativ wird erfahren, was die Autorin nahelegt: Sich zu verlieren ist aufregend und hart zugleich. Befreit und fordert Geduld. Seite für Seite fügt sich das Größere zusammen: ein intimes, netzartiges Kaleidoskop aus Geschichte(n), Fakten, Überlegungen, Träumen und Erinnerung. Vergleichbar ist etwa Maggie Nelsons Bluets (2009), ein breit angelegtes Liebesgeständnis an die Farbe Blau (zudem ist die Faszination an Blau ein Überschneidungspunkt der Texte).

Fazit

In Die Kunst sich zu verlieren. Ein Wegweiser findet Solnit faszinierende Bilder für ein bewegendes Thema: Das Sich-Verlieren. Mit Intuition und Beobachtung dreht und wendet sie den Begriff, seziert seine Bedeutung und findet eine neue. Wer hie und da dem Bedürfnis nach Struktur widerstehen kann und mit philosophischem Anspruch abtauchen will, wird Gefallen finden. Denn es lohnt sich, mitzutreiben: Das Ergebnis ist persönlich und Solnits achtsame Beobachtungsgabe beeindruckend. Die Kunst sich zu verlieren. Ein Wegweiser ist ein Sammelsurium an unterschiedlichen Fragmenten und eine Reise, von der man klüger und reich an Geschichten zurückkehrt. Zudem eine wichtige Erinnerung daran, dass wir nicht nur Planungshilfen, sondern auch Intuition besitzen.

Rebecca Solnit: Die Kunst sich zu verlieren, Matthes &Seitz Berlin 2020.D
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