Wo ist man Zuhause mit einem jesidischen Vater und einer deutschen Mutter? Was tun, wenn man sich zwischen den Welten zerrissen fühlt? Und wie lebt es sich mit der täglichen Angst um die fernen Verwandten im Bürgerkrieg in Syrien? Ronya Othmann erzählt in ihrem Debütroman DIE SOMMER von der Identitätssuche einer jungen Frau und den Schrecken einer Verfolgung, die kein Ende nehmen will.
Leyla wächst als Einzelkind in einem kleinen Dorf im Süden Deutschlands auf. Jeden Sommer fliegt sie in das Land, aus dem ihr Vater stammt: Kurdistan. Kurdistan, so lernt sie als kleines Mädchen, liege in der Syrischen Arabischen Republik. Wenn Leyla an der Hand ihres Vaters das Flugzeug in Aleppo oder Damaskus verlässt, versteht sie die arabischen Menschen um sie herum nicht. Erst wenn sie die lange Autofahrt durch die trockene Landschaft hinter sich gebracht hat und im Dorf, irgendwo zwischen Tirbespi und Rmelan ankommt, lächeln ihr bekannte Gesichter zu: Die Großmutter, ihre Tanten und Onkel, ihre Cousine Zozan.
Zwei Leben
Jeden Sommer taucht Leyla für sechs Wochen in ein anderes Leben ein. Eindrucksvoll entwirft Ronya Othmann zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Ohne klischeehaft zu werden, erzählt sie von der Armut und Herzlichkeit im syrischen Dorf. Das kleine Lehmhaus von Leylas Großeltern liegt inmitten von Olivenbäumen, Tabakpflanzen und staubigen Feldern. Im Garten laufen Hühner frei herum und Leyla schläft zusammen mit all ihren Verwandten in einem Bett im Hof. Ständig kommen Nachbar*innen vorbei und Leyla lauscht den Gesprächen, die sie mit ihrem unsicheren Kurdisch erst nach und nach versteht. Sie erzählen Geschichten von entfernten Verwandten, von Flucht, Verfolgung und Krieg – denn die Menschen im Dorf gehören der verfolgten Minderheit der Jesiden an.
In Deutschland ist alles anders. Hier geht Leyla zur Schule und muss ständig komische Fragen beantworten. Wo ihr Name herkomme? Warum sie denn nichts über den Islam wüsste? Ob sie am Ramadan faste? Das stille Mädchen zieht sich in sich zurück und versucht, ganz wie ihr Vater empfiehlt, nicht aufzufallen. Mit einer behutsamen Präzision zeichnet Ronya Othmann das Bild eines Mädchens, das als Kind von Migrant*innen versucht, in Deutschland zurechtzukommen. Als junge Erwachsene möchte Leyla vor allem dazugehören. Sie fängt an sich zu schminken, raucht ihren ersten Joint und geht auf ihre ersten Partys. Eine Lebensrealität, die sie – zurück im Elternhaus – abstreift wie eine zweite Haut.
Die Zerrissenheit einer jungen Frau
Es sind zwei Welten, die Leyla schwer zu vereinbaren weiß. In Deutschland wird sie nicht als Deutsche behandelt und erfährt schon im Kindesalter den Konflikt zwischen Muslimen und Kurden am eigenen Leib. In Syrien beäugen die anderen Kinder sie mit Neugierde und stellen Fragen zu Almanya. Sie ist Teil der Familie und dennoch nur zu Besuch. Die junge Frau mit den zwei Heimaten ist zerrissen zwischen den deutschen Lebensgewohnheiten und ihrer geliebten Familie.
Manchmal, dachte Leyla, wäre es vielleicht besser, nie hergekommen zu sein oder niemals wieder hierherzukommen, nichts vermissen zu müssen und nicht vermisst zu werden. Oder vielleicht wäre auch das nicht besser, aber einfacher, wenigstens.“
In einer ergreifenden Subtilität schafft Othmann es, die Identitätssuche ihrer Protagonistin einzufangen. Beinahe schmerzhaft erscheint Leylas Wunsch nach Dazugehörigkeit.
Von der Rolle des Vaters und einer verfolgten Minderheit
Für ihren Vater, so glaubt Leyla, ist sie eine Enttäuschung. Er, der extra für sie nach Deutschland gekommen sei, habe ihr doch alles ermöglicht. Eindrucksvoll zeichnet Othmann die Schuldgefühle Leylas nach. Die Flucht des Vaters, wenn auch schon Jahre her, und seine jesidische Herkunft rücken immer wieder in den Mittelpunkt der Erzählung. Die Jesiden (auch Êzîden) sind eine kurdisch sprechende ethnisch-religiöse Minderheit, die ursprünglich im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei lebten. Seit Jahrzehnten werden Jesiden aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben und ihnen ihre Staatsangehörigkeit aberkannt. Auch Leylas Familie gehört zu diesen Staatenlosen: adschnabi, Ausländern. Ronya Othmann erzählt entlang der einzelnen Figuren in ihrem Roman, den Großeltern und dem Vater, vom Schicksal unterschiedlicher Generationen der jesidischen Bevölkerung. Es sind die Figuren, die uns von zurückliegenden Repressionen erzählen, weshalb ihre Stimmen authentisch wirken. Othmann verflechtet Erinnerungen der Großmutter mit den Erzählungen des Vaters. Erstaunlich nüchtern und zugleich schonungslos brutal erfahren die Leser*innen von früheren Zeiten und der Flucht des Vaters als politisch Verfolgter und Gegner des Assad-Regimes.
Das Erinnern beginnt mit dem Krieg
Irgendwann fährt Leyla nicht mehr in den Sommerferien zu ihren Großeltern. Zu gefährlich, sagen ihren Eltern. Es ist 2010 und die Ereignisse in Syrien überschlagen sich. Leyla macht Abitur, zieht zum Studieren in eine andere Stadt. Aber ihr Leben in der neuen Stadt will nicht so richtig an Fahrt aufnehmen. Sie fühlt sich einsam, fremd und unverstanden. Der Bürgerkrieg in Syrien lässt sie nicht los. Mehr und mehr verschwimmen die Erinnerungen der Figuren mit den politischen Ereignissen und vermischen sich mit Leylas Lebenslauf. Die Hoffnung des arabischen Frühlings verdeutlicht Othmann anhand der wiederaufblühenden Energie von Leylas Vater. Die gewaltvolle Unterdrückung der Demonstrationen leitet sein Verstummen ein. Leyla erlebt den Beginn des Bürgerkrieges, die grausame Besetzung der Rojava Region durch den IS, den Genozid an den Jesiden von der Ferne aus. Stundenlang schaut sie Nachrichten und klickt sich durch die Bilder der Toten. Die Angst, ihre Verwandten auf dem flimmernden Bildschirm zu entdecken, wird zu ihrem ständigen Begleiter.
Sie sterben. Sie sterben nicht. Sie sterben. Sie sterben nicht. Die Angst und Übelkeit, die Leyla gemeinsam überfielen, hatten keine Struktur.“
Politisches Bewusstsein
Das Thema für Ronya Othmans Debütroman könnte anspruchsvoller nicht sein. Über einen Krieg zu schreiben, der seit Jahren Tausenden von Menschen das Leben kostet und die Welt außer Atem hält, ist eine große Aufgabe. Doch DIE SOMMER liest sich nicht als eine Erklärung oder Beurteilung der komplexen Kriegsgeschehnisse und Konflikte. Vielmehr geht es um das subjektive Empfinden des Bürgerkrieges aus der jesidischen Perspektive, um das Leiden einer verfolgten Minderheit unter einem diktatorischen Regime, um Gewalt. Es geht um das verzweifelte Zusehen und die Sorge um Andere. Mit ihrer nüchternen und trotzdem zärtlichen Sprache schafft Ronya Othmann es, uns näher zu bringen, was es heißt, nach Frieden zu suchen und ihn nicht zu finden.
Ronya Othmann, die selbst jesidisch-kurdische Wurzeln hat, weiß wovon sie spricht. Sie schreibt seit mehreren Jahren für die taz die Kolumne OrientExpress zur Nahost-Politik und engagiert sich für marginalisierte Minderheiten. Auch ihre Verwandten kommen aus dem jesidischen Dorf nördlich von Aleppo. Doch obwohl ihr Roman zwar Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben aufgreife, sei er keineswegs als Autobiografie zu verstehen, betont die Autorin im Interview. Vielmehr ginge es ihr darum, eine Stimme zu finden und ein politisches Bewusstsein für die Verfolgung der Jesiden zu schaffen.
DIE SOMMER ist ein ungewöhnlicher Debütroman, den die bereits jetzt vielfach ausgezeichnete junge Autorin verfasst hat. In einer Zeit, in der der Krieg in Syrien zunehmend in den Hintergrund medialer Berichterstattung gerät, erscheint solch ein Buch umso wertvoller. Mit DIE SOMMER hat Ronya Othmann eine kraftvolle Erzählung geschrieben, die ergreift und sich sehr zu lesen lohnt.
Ronya Othmann: Die Sommer. Roman. Hanser, München 2020. 288 Seiten, 22 Euro.
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