Dass Gleichberechtigung im Literaturbetrieb längst noch ein Fremdwort ist, möchte der Roman Hippocampus von Gertraud Klemm aufzeigen. Die österreichische Autorin entwirft das Bild einer sensationslüsternen, patriarchalen und korrupten Literaturbranche – und legt, wie es der Klappentext verspricht, ihren Finger dahin, wo es wehtut. Doch Klemms Finger kratzt nur an der Oberfläche.
Besonders raffiniert ist die Handlung des viel gelobten Romans nicht. Helene Schulze, eine vergessene Autorin der feministischen Bewegung der 1970er Jahre, stirbt einen einsamen Tod mit gerade einmal 60 Jahren. Geschieden, frustriert und von der Kritik verschmäht lebte die einst gefeierte Schriftstellerin zurückgezogen im österreichischen Kuhkaff Hintermoos, wo sie ihre gescheiterte Karriere mit Alkohol begoss. Schuld daran: Ihre Entscheidung, Kinder zu bekommen. Zwanzig Jahre später will man von der verstaubten „Alt-Feministin“ nichts mehr lesen. Erst ihr Tod und der neue Roman, den sie der Nachwelt hinterlässt, sind eine Schlagzeile wert. Der Literaturbetrieb stürzt sich sensationslüstern auf Helenes Geschichte und nominiert den „Drohnenkönig“ für den Deutschen Buchpreis. Vermutlich deshalb, weil sich die Jury „mit ihrer politischen Beweglichkeit schmücken will“, findet Elvira Katzenschlager. Helenes einstige Mitstreiterin aus jungen Jahren sortiert den Nachlass ihrer Freundin. Dabei gerät Elvira in eine Wut über das scheinheilige Lob des Feuilletons, der sich erst posthum für Helene interessiert – und plant einen Rachefeldzug.
Der Hippocampus rächt sich
Elvira beschließt, der Presse einen Spiegel vorzuhalten. Zwanzig Jahre hatte ihre Freundin vergeblich um die gebührende Anerkennung gerungen. Ihr finanzieller Zusammenbruch, ihre gescheiterte Hoffnung, ihr verzweifelter Kampf um Gleichberechtigung sollen nicht vergessen sein. Mit radikalen Kunstaktionen will Elvira die Öffentlichkeit wachrütteln. Ihren Rachefeldzug tritt sie gemeinsam mit Adrian an, einem halbstarken Kameramann, der ihr helfen und die Aktionen dokumentieren soll. Zusammen reisen die beiden mit einem rostigen VW Bus entlang Helenes biografischen Lebensorten quer durch Österreich. Sie verkleiden Denkmäler, bauen Fäkalienskulpturen und sabotieren Preisverleihungen und Ausstellungen. Alles fein säuberlich mit einem Seepferdchen, dem Hippocampus, signiert – ein Symbol, das für die Überwindbarkeit von Geschlechtergrenzen steht, da in der Tierwelt die männlichen Seepferde den Nachwuchs gebären.
„Heute ist der Literaturbetrieb ein Kindergarten für Schwererziehbare.“
Der bizarre und exzentrische Roadtrip wird bald zu einem Feldzug gegen einen patriarchalen Kulturbetrieb. Ob alte weiße Literaturkritiker, die vorrangig männlichen Jurymitglieder eines Bachmannpreises oder eine konservative Stadtverwaltung – Klemm lässt alle Protagonisten der Kulturmaschinerie auftauchen. Der Literaturbetrieb wird zu einem „Kindergarten für Schwererziehbare“, in dem jeder alles darf und Frauen dennoch nicht genügend Beachtung finden. Ihre Kritik bleibt dabei jedoch sehr dem Ärger Elviras verhaftet. Anstatt die strukturellen Probleme der Branche auszudifferenzieren, bleiben Klemms Vorwürfe allgemein.
„Sexismus ganz ohne Hashtag“
Mit Elvira Katzenschlager hat sich Klemm für eine Protagonistin entschieden, die sich in der Frauenbewegung der 1970er Jahre engagierte. An zahlreichen Stellen des Buches wird auf die Aktionsformen der Zweiten Welle der feministischen Bewegung verwiesen. Die kompromisslose „Alt-Feministin“ Elvira knüpft mit ihrer Aktionskunst an frühere Aktionen aus ihrer Jugend an. Die Radikalität, mit der sie ihren Protest umsetzt, scheint dabei auch eine Kritik an aktuellen Feminismusbewegungen zu sein, die als passiv und Mainstream-konform dargestellt werden. So heißt es an einer Stelle:
„Flüchtlingsströme, Sexroboter, #Metoo-Skandale. So etwas wollen die Leute jetzt lesen. Nicht Romane über Geschlechterpolitik, Klassenkampf, Ungerechtigkeit, Sexismus ganz ohne Hashtag.“
Aus Hippocampus
Elvira Katzenberger scheint, schwelgend in ihren Erinnerungen an die 1970er Jahre, den aktuellen feministischen Debatten ihre Ernsthaftigkeit abzusprechen und jüngere Generationen als unkritisch wahrzunehmen. Auch wenn Klemm zurecht an das Engagement des feministischen Protests der Zweiten Welle erinnert, werden aktuelle feministische Tendenzen als Modefeminismus abgetan.
Klemm spricht damit ein spannendes Grundproblem der Feminismus-Debatte an. Doch der Konflikt bleibt undifferenziert, denn mit jungen Menschen hat Elvira Katzenschlager „sowieso nichts mehr zu tun.“ Schade also, dass Klemm die Chance für einen generationsübergreifenden feministischen Dialog versäumt.
Wer altert wird unsichtbar
Stattdessen legt die Autorin den Fokus auf die gesellschaftliche Stellung älterer Frauen: Helene Schulze wird mit wachsendem Alter als „Krawallemanze“ abgestempelt und gerät in Vergessenheit.
Alte Frauen werden nur noch als eine Art Hintergrundgeräusch begriffen, ein schimmelndes Restprodukt am Rande der Gesellschaft. Unsichtbar, sprachlos, entmachtet und zu nichts mehr zu gebrauchen. Diese Unsichtbarkeit wird umso deutlicher, als dass sich die gesamte Romanhandlung um dieses Thema herum entwickelt: Denn schließlich sind Elviras Racheaktionen letzten Endes vor allem ein Versuch, gehört zu werden. Und auch Helenes Tod und die posthume mediale Aufmerksamkeit zeigen: „Tote sprechen lauter als Lebendige.“
„Emanze“ versus „Macho“
Um Elviras politische Einstellung noch deutlicher hervorzuheben, kontrastiert Klemm die Perspektive der Feministin mit der Sicht des Kameramanns Adrian. Dieser ist Mitte Zwanzig und begleitet die forsche Feministin vor allem deshalb, weil er pleite ist. Adrian ist wohl das, was man gemeinhin einen „Macho“ nennt. Sein Blick ist bestimmt von einem sexistischen Weltbild, sein eigenes Begehren der Nabel seiner Welt. Normalerweise macht Adrian einen großen Bogen um „Emanzen“ wie Elvira. Doch schießlich beginnt ihr Roadtrip dem jungen Mann zu gefallen und – so der sehr vorhersehbare Plot – belehrt ihn eines Besseren.
Der Perspektivwechsel zwischen Adrian und Elvira lockert die ansonsten lineare Handlung auf und bietet einen erfrischenden Kontrast. Gleichzeitig erscheint diese Gegenüberstellung in ihrer Polarität jedoch auch etwas platt. Den Figuren fehlt es an Komplexität, ihre Handlungen sind größtenteils absehbar. Vielmehr wirken Elvira und Adrian wie standarisierte Figuren einer plakativen Sexismus-Diskussion.
Eine Schublade voller Stereotypen
Dabei greift Klemm ein wenig zu tief in die Klischee-Schublade. Der skurrile Roadtrip durch Österreich, Adrians Sexismus oder auch Elviras ruppige Art sind naheliegend, abgegriffen, monoton. Auch wenn Klemm den Kulturbetrieb an den richtigen Stellen kritisiert, bleibt ihre Karikatur der Literaturbranche letzten Endes meist unspezifisch und oberflächlich. Klemms Gesellschaftskritik weicht selbst an vielen Stellen des Romans verkaufstauglichen Inhalten. Und so sucht man den von Elvira gewünschten „Roman über Geschlechterpolitik, Klassenkampf, Ungerechtigkeit und Sexismus ganz ohne Hashtag“ in Hippocampus vergeblich.
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