Wir brauchen Geschichten

Im Gespräch mit Schreibcoach Kirsten Jenne.

Interview von Carolin Nowratzky

Kirsten Jenne (c) Dorothee Rabe

Du warst Buchhändlerin. Wie wurdest du dann Schreibcoach?

Es fängt an mit einem Interesse für Bücher, Lesen und Schreiben. Ich habe erst die Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht und dann während meines langen Studiums (lacht) immer nebenher im Buchhandel gearbeitet. Nach der Ausbildung habe ich ein geisteswissenschaftliches Studium aufgenommen (Anglistik, Romanistik und Philosophie) und dann auf Pädagogik gewechselt, weil ich doch nicht im Verlagswesen arbeiten wollte. 2001 habe ich dieses Studium abgeschlossen und dann mehr als zehn Jahre als Pädagogin gearbeitet ohne Bezug zum eigentlichen Schreiben. Später bin ich auf die Annonce zum Studiengang Kreatives und biografisches Schreiben gestoßen. Als ich dort 2013 angefangen hatte, habe ich nicht damit gerechnet, dass ich das jetzt auch so nutzen werde. Ich dachte, dass ich Methoden lerne, die ich in meiner pädagogischen Arbeit einsetzen kann. Dass ich tatsächlich von Deutschunterricht über wissenschaftliches Schreiben bis zur Schreibwerkstatt und Einzelcoachings tätig bin, damit habe ich nicht gerechnet. Es ist nichts, wovon ich ausschließlich leben kann, aber es kommen immer wieder Anfragen, über die ich mich sehr freue.

Wie gestaltet sich ein Coaching bei dir?

Ich coache hauptsächlich im wissenschaftlichen Schreiben, weniger im literarischen. Das fängt bei der Themenfindung und Aufbau der Gliederung an. Häufig kommen die Leute auch mit spezifischen Fragen und möchten zu bestimmten Stellen ein Feedback haben. Eine gute Fragestellung für eine Arbeit zu formulieren ist das Wichtigste, um den roten Faden im Auge zu behalten. Als Coach arbeite ich punktuell an zwei bis drei Seiten und gebe eine Rückmeldung, ich steige da nicht tiefer ein.

Kommen vorwiegend Studierende mit Fragen auf dich zu?

Studierende, die einfach mal eine Rückmeldung zu ihrem wissenschaftlichen Text haben möchten. Das kann sehr unterschiedlich sein: zur Fragestellung, zu bestimmten Passagen, zum Stil und richtigen Zitieren.

Hast du Tipps zum Anfangen von wissenschaftlichen Arbeiten?

Es gibt viele verschiedene Tipps, da es auch verschiedene Schreibtypen gibt. Bei Seminaren beginne ich damit Ideen zu sammeln. Verschiedene Kreativitätstechniken von Freewriting, Mind-Map, Alphabetliste und Selbstgespräche, wo man sich erzählt, was einen am Thema interessiert. Warum mache ich überhaupt mein Studium, was interessiert mich besonders, was war in letzter Zeit das Spannendste? Das kann man dann immer mehr einschmelzen, bis man eine Fragestellung hat. Das Thema wird solange gesiebt, bis eine klare Fragestellung bleibt. Dann liegt es an einem selbst, wie es weitergeht. Schreibt man drauf los, macht sich eine ausführliche Gliederung, recherchiert erst …

… wie der Eichhörnchen-Schreibtyp aus dem Video auf deiner Website?

Ja, genau. Das Video zeigt, dass jeder irgendwie alles ein bisschen ist. In verschiedenen Arbeitsphasen greift man auf jeweils andere Methoden zurück. Manchen fällt es schwer zu erkennen, dass man selbst die Richtung vorgibt.

Hast du einen Tipp gegen eine Schreibblockade?

Die Frage ist, ob es wirklich eine Blockade ist oder nur eine Hemmung zu schreiben, z.B. ein Motivationsloch. Wichtig ist nicht allein davor zu sitzen, sondern sich mit anderen auszutauschen. Mal einen Schritt zurückzugehen, vielleicht mal ein paar Tage nicht schreiben und es sich dann wieder durchlesen. Auch ein Drumherumschreiben, also eine Art Freewriting kann hilfreich sein. Ein Schreibjournal nebenher zu führen kann auch helfen. Wenn ich zu festgefahren bin, muss ich einen Schritt zur Seite gehen und es nochmal von außen betrachten. Ganz banal einfach spazieren gehen, den Kopf frei bekommen. Ich bin eine große Freundin von Schreibgruppen, sich also in Arbeitsgruppen zu finden und zusammenzuarbeiten. Das ist wichtig und hilfreich. Den eigenen inneren Kritiker zum Schweigen bringen und eine Stimme von außen zu haben. Sowas ist immer wieder notwendig, vor allem wenn es um längere Arbeiten wie Bachelor- oder Masterarbeiten geht.

Du gibst die Werkzeuge an die Hand?

Ja, genau. Andere Methoden aufzuzeigen, wie man arbeiten kann. Was mache ich, wenn ich morgens nicht anfange, was, wenn es mir an Motivation fehlt?

Fragst du auch nach der Zielgruppe?

Ja, natürlich. Beim wissenschaftlichen Arbeiten lasse ich oft auch einen Perspektivwechsel machen: Stell dir vor, du bist dein Prüfer. Was ist für dich eine gute wissenschaftliche Arbeit? Aus Sicht der Arbeit kann man das auch machen.

Das ist wieder sehr kreativ, obwohl es um eine wissenschaftliche Arbeit geht.

Das schließt sich auch nicht aus. Beim Coaching zum Schreiben von Bewerbungen achte ich darauf, an wen die Bewerbung gerichtet wird. Ist es ein junges, dynamisches Start-up, ein alteingesessener Familienbetrieb oder eine Behörde? Je nachdem wird von Layout bis Text alles angepasst. Die Empfänger des Textes müssen einem immer bewusst sein.

Gibt es beim kreativen Schreiben Phänomene, die immer wieder auftauchen?

Wir haben alle unsere Vorlieben, wie wir schreiben. Das kann sein, dass man Sachen doppelt beschreibt und viel zu viel erklärt, was ist anstatt was passiert, show don’t tell. Das ist aber eine Übungssache. Letztendlich kommt es darauf an, wie ich meine Leserschaft erreichen kann. Das ist so individuell und immer Geschmackssache. Man kann nicht immer jeden erreichen, von dem Anspruch muss man sich lösen.

Wie gibst du Feedback, wenn du merkst, dass das jetzt ein sehr persönlicher autobiografischer Text ist?

Ich bin schnell gerührt. Manchmal nehme ich mir auch erst die Zeit und sage, dass ich jetzt noch gar nichts dazu sagen kann. Der Gesamteindruck ist für mich wichtig: Welche Textstellen haben mich besonders berührt? Der Vorlesende soll auch sagen, wozu er Feedback haben möchte. Auch in Schreibgruppen, sollte man sich vorher klarmachen, wozu man Feedback haben möchte und braucht. Es hilft mir nichts, wenn ich den Erstentwurf geschrieben habe und jemand sagt mir, dass da ein Komma fehlt. Manchmal geht es auch nur um ein Sharing und um ein Mitfühlen, bei dem man nur sagen muss: „Ja, ist angekommen, es hat mich berührt“.

Klingt nach einer emotionalen Runde.

Das kann es schon sein, ja. Es kann aber auch sein, dass ich mit einer Übung etwas triggere, was ich so nicht erwartet hatte. Das kann was ganz Banales sein, wie kürzlich mit Farbassoziationen. Im Nachgang stellte sich heraus, dass ein Herr farbenblind ist. Er stand da glücklicherweise drüber, aber trotzdem war das etwas, wo ich geschluckt habe. Da rechnet man nicht mit. Es kann also immer sein, dass man einen wunden Punkt trifft und dann wird es emotional. Meine Aufgabe als Leiterin ist es dann, offen und sensibel zu sein. Es kann auch mal zu Tränen kommen.

Dachtest du bei einer Idee aus deiner Schreibwerkstatt schon mal: „Die Idee hätte ich gerne selbst gehabt.“?

Ja! Das ist das Schöne, wenn man solche Idee von anderen hört. Es erweitert den eigenen Horizont. Es durchbricht eigene Mauern und zeigt, dass es auch anders geht.

Ist belletristisches Schreiben eine Flucht in eine zweite Realität?

Das war auch Thema in meiner Masterarbeit – die kathartische Wirkung des Krimischreibens, also warum Leute Krimis schreiben. Schon Freud hat sich damit beschäftigt und gesagt, dass Schriftsteller dort so eine Art Wunschwelt schaffen. Das geht damit einher, dass wir Menschen Geschichten brauchen. Sie sind eine Art Lernsituation für uns. Lisa Cron beschreibt das in ihrem Buch Wired for Story sehr schön, wie sehr wir und unser Gehirn darauf gepolt sind, Geschichten haben zu wollen. Vor allem, wenn man zum Grübeln neigt, kann Schreiben oder können Geschichten sehr heilend wirken. So kann man auch Sachen loslassen, Punkt, Ende, vorbei.

Kann jeder schreiben lernen? Braucht man dafür Talent oder ist es ein Handwerk?

Ob es jeder lernen kann, weiß ich nicht, aber grundsätzlich kann man es lernen, ja. Gerade im englischsprachigen Raum sind academic writing und Schreibwerkstätten schon viel länger bekannt. Hier in Deutschland hat man doch diesen Geniegedanken. Das ist Unsinn. Man kann es lernen, es ist Übung und ein bisschen Talent und Verständnis, wie mein Text bei anderen ankommt.

Zum Abschluss möchte ich gerne noch von dir wissen, was gute Literatur für dich ist.

Eine gut erzählte Geschichte. Stil ist manchmal gar nicht so furchtbar wichtig, die Geschichte muss mich mitnehmen. Ich habe jetzt gerade Harry Potter im Kopf, obwohl das schon so lange her ist. Das ist sprachlich nicht das Non-Plus-Ultra, aber die Geschichte ist spannend. Kürzlich habe ich eine irische Krimiautorin entdeckt, Tana French. Die Figuren sind es, die mich mitnehmen. Wenn man das Buch zuschlägt und das Gefühl hat, man hat sie richtig kennengelernt.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Weitere Informationen zu Kirsten Jenne und ihrer Arbeit unter 
https://kirstenjenne.de/

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