Marianne hat etwas Dummes getan. Mit einem Springseil hat sie sich aufgehängt, bis ihre ältere Tochter Edith sie findet und das Seil durchschneidet. Jetzt müssen Edith und ihre Schwester Mae weg aus Louisiana nach New York zu ihrem Vater. Katya Apekinas Debütroman Je tiefer das Wasser erzählt von zwei Schwestern, die alles versuchen, um von ihren Eltern geliebt zu werden. Dafür reißen sie ihre eigenen Grenzen ein.
Als Edith ihre Mutter an einem Seil baumelnd im eigenen Haus findet, ändert sich alles für sie und ihre Schwester Mae. Während Marianne mit Striemen am Hals überlebt und in eine Klinik für Psychiatrie gebracht wird, müssen die Mädchen zu einem für sie bis dahin unbekannten Mann: ihrem Vater Dennis, berühmter Schriftsteller, vormals politischer Aktivist und Frauenschwarm. Was sich für die vierzehnjährige Mae plötzlich nach einem sicheren zu Hause anfühlt, ist für die sechzehnjährige Edith Zwang und der Verlust jeglicher Selbstbestimmung.
Dennis quetscht seinen Stuhl zwische Tisch und Kühlschrank, setzt sich, vergräbt die Finger in seinem Bart und starrt uns an. Ich sehe weg, merke aber, dass Mae sein Starren erwidert. Er schüttelt mich an der Schulter, bis ich ihn schließlich ansehe. Es ist komisch, weil seine Augen die gleichen sind, die mir entgegen sehen, wenn ich in den Spiegel blicke. Einen Moment bin ich wie hypnotisiert, als wäre ich nicht in meinen Körper. ,Hör zu‘, sagt er mit gebrochener Stimme. ,Mir ist klar, dass ihr mich am Anfang vielleicht als Fremden empfindet. Aber ich bin kein Fremder. Ich bin euer Vater.‘ Und dann fällt sein starres Gesicht in sich zusammen, und er zieht uns an seine Brust und hält uns fest, bis der Tee kalt ist.
Für Mae ist der Umzug nach New York die längst überfällige Flucht vor der Mutter. Mae, die aussieht wie die junge Marianne, war bis dahin „in Moms Wirklichkeit gefangen“, musste mit ihr fremde Menschen beobachten oder stundenlang mit Pelzmänteln bedeckt neben ihr im Bett schwitzen. Endlich ist Mae nicht mehr die Verlängerung ihrer Mutter mit dem gleichen Gesicht. Edith hingegen wurde von Marianne weniger eingenommen, hat einen Freund in Louisiana und will sich bei Dennis bloß nicht zu wohl fühlen.
Zwei Wochen ist es her, seit Mom im Krankenhaus verschwand, schon betrügen wir sie.
Mit Dennis, der Marianne und die Kinder verließ und zwölf Jahre lang keine Rolle in ihrem Leben spielte, mit seinen Büchern, seinen Frauen, seinen plötzlichen Vatergefühlen und seiner Schuld, möchte sie nichts zu tun haben.
Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte, dass er uns nicht von der Pelle rückt und ständig bescheuerte Bemerkungen über banalen Scheiß von sich gibt.
Kein Verhältnis von Distanz und Nähe
Während Mae und Dennis sich immer näher kommen – beunruhigend nah – hält Edith es nicht mehr aus und flieht zurück nach Louisiana. Die Schwestern entzweien sich, Mae möchte bei Dennis leben und sich der Vereinnahmung der Mutter entziehen. Edith steht loyal zu Marianne und erträgt den Gedanken nicht, dass die allein im Krankenhaus ist.
Na gut, Mae. Du hast deinen Willen. Du bist schon immer aalglatt gewesen, und jetzt bist du mich los. Aber nimm dich in Acht. Für Leute wie dich ist Freiheit nicht gut. Wer hält dich fest, wenn ich weg bin? […] Mom hat gesagt, er mag seine Vögelchen mit gebrochenen Flügeln, aber sie hat sich geirrt. Seine Flügel sind gebrochen.
Während die Schwestern voneinder wegstreben, fächert auch der Roman seine Perspektiven auf. Zu Maes und Ediths Perspektiven gesellen sich alte Briefe zwischen Dennis und Marianne, Krankenhaus-Befunde, Rezensionen von Dennis Büchern, die Sicht der Tante, des Nachbarn, Blicke in die Vergangenheit, Blicke der unzähligen Affären auf ihren Liebhaber Dennis. Katya Apekina formt so eine vieldimensionale Geschichte, ein Universum, das die Leser*innen leicht betreten können. Stück für Stück baut sich ein Bild der Vergangenheit auf: Mariannes und Dennis Kennenlernen, da war Marianne noch ein Kind. Die Betrunkenheit der beiden voneinander. Das Scheitern. Und die gemeinsame gefährliche Elternschaft, in der sie jegliches Verhältnis von Distanz und Nähe zu ihren Kindern verloren haben. An einigen Stellen erklärt Apekina zu viel, anstatt die Leser*innen ein paar Leerstellen mehr selbst ausfüllen zu lassen. Das ist den Zeit- und Perspektivsprüngen geschuldet und dem Willen, der Leser*in die Vergangenheit und die Verknüpfungen auch wirklich nachvollziehbar zu erklären.
Den Eltern gefallen
Diese Familie hat ein großes Problem. Die Kinder wollen nichts mehr, als den Eltern gefallen. Edith hat sich von Marianne schon immer zurückgewiesen gefühlt und lechzt nach Liebe. Und Mae sieht in ihrem Vater ihren Retter. Subtil erschafft Apekina von Anfang an Situationen, die beim Lesen unangenehm sind. Als Mae beim Surf-Spiel auf ihrem Vater steht, er unter ihr buckelt und sie lachend herumrollen, ist das so eine Szene. Wie er dauernd ihr Gesicht fixiert. Wie nah sie sich körperlich sind. Und da gerät Mae doch wieder in den Sog, vor dem sie geflohen ist und wird zur Verlängerung ihrer eigenen Mutter, um sich seine Liebe zu erkämpfen.
Wenn seine Gedanken bei Mom waren – und das waren sie oft -, dann wurde ich eben zu Marianne. […] Ich hatte ein unglaubliches Talent dafür, Dads Muse zu sein.
Wie die Töchter um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern kämpfen, wie sie ihre eigenen Grenzen überschreiten und das Schwestern-Band verlieren, ist schmerzhaft. Immer wieder nähert Apekina die Perspektiven der beiden an, schiebt dann doch noch andere Stimmen dazwischen, lässt die Mädchen einander vergessen und erhält eine Spannung aufrecht, in der man sich fragt: Was wird aus den Schwestern? Denn, und das ist eine der großen Stärken des Romans, die Geschichte ist kein Stück vorhersehbar. Katya Apekina gelingt es fantastisch, den einzelnen Perspektiven ihre eigene Sprache, einen eigenen Slang zu verleihen und zeichnet damit starke und zugleich zerbrechliche Figuren, für die man bis zum Ende hofft: flieht, verzeiht einander und werdet bitte nicht wie Marianne und Dennis.
Katya Apekina: Je tiefer das Wasser, Suhrkamp 2020.
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