Smartphones, das Internet, selbstfahrende Autos – schöne Erfindungen, aber auch auf Kosten unserer Autonomie? Viele können sie nicht mehr hören, diese ewige Technologiekritik. Roger Willemsen formuliert sie in einer posthum erschienenen Zukunftsrede mit neuer Dringlichkeit.
Eine Rezension von Robert Steffani.
Die Zukunft ist präsent – was widersprüchlich klingt, ist längst zum Topos des Alltags geworden. Ob in Filmen, Werbung, Literatur oder Computerspielen, überall manifestiert sie sich als unser Sorgenkind. Nicht umsonst versteht sich die Science-Fiction seit jeher am besten auf die Darstellung von Dystopien. Wenn es in Roger Willemsens Buch Wer wir waren. Zukunftsrede also heißt, dass „vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden“ sei, klingt das dem Pessimisten wie eine altbekannte Wahrheit. Doch was bleibt übrig für jene, die noch hoffen wollen?
„Keine Zeit hat je eine Öffentlichkeit so mikroskopisch genau zerlegen und detailvergrößern können wie diese.“
Willemsens Zukunftsrede macht keine Freude. Wer liest schon gerne über Verfehlungen einer Gattung, der man selbst angehört – der Hominide nicht und der Homo sapiens schon gar nicht. Und trotz seiner ungenießbaren Botschaft ist dieses Buch lesenswert. Warum? Um einen falschen Eindruck gleich vorwegzunehmen: Willemsen spricht nicht als der verbitterte alte Mann, der die Welt nicht mehr versteht, im Gegenteil, er versteht sie erschreckend gut. Das wird etwa deutlich, wenn er über die Digitalisierung sagt: „Keine Zeit hat je eine Öffentlichkeit so mikroskopisch genau zerlegen und detailvergrößern können wie diese.“ Solche Feststellungen sind berückend klar. Mit Willemsen sehen wir auf die Phänomene des digitalen Alltags und wohin sie uns führen: in die Vereinzelung von Eigenschaften, die verlernt haben, ein Ganzes zu sein. Der Mensch lebt atomisiert, ist Fragment, eine Information im Daten-Pool der unbegrenzten Möglichkeiten.
Das alles zieht also an uns vorbei, unerkannt, weil die Pop-up-Nachricht uns gerade mehr bedeutet als die eigene Nicht-Existenz. Wenn schon das Weltgebäude über uns zusammenbricht, machen wir daraus eine Instagram-Story. Vielleicht gibt es ja einen Filter, der die Szene noch dramatischer wirken lässt, noch mehr Klicks generiert. So formuliert, klingt das ziemlich zynisch. Bei Willemsen ist es anders, denn er lehnt die Entwicklung ab und fordert auf: Seid dagegen! Sein Begriff des „Durchgangsmenschen“ soll jenen eine Warnung sein, die hätten handeln müssen und es nicht taten, jenen, „die wussten, aber nicht verstanden, […] voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung.“ Hierin steckt bereits eine Lösung des Problems, nämlich die Entbehrungen unserer Moderne wiederaufzunehmen: zu verstehen, erkennen, erfahren.
Genaue Beobachter*innen sind gefordert
Der Publizist und Moderator plädiert daher für den romanhaften Menschen, den wachen Träumer, den Flaneur, den genauen Beobachter. Die Avantgarde aber liebt die Kurzform. Kein Wunder also, dass ein Teil der literarischen Nachwuchsgeneration unabhängig auf Twitter und anderen sozialen Netzwerken publiziert. Diese Entwicklungen vorurteilsfrei zu betrachten, steht außer Frage. Doch unter solchen Bedingungen hat etwa das komplexe Menschenbild eines Bildungsromans keine Chance, und das ist symptomatisch für eine Gesellschaft, die den Blick für das scheinbar Unwichtige verlernt hat. Nach Willemsen ist das Unwichtige existentiell, wer sich dem entzieht, gibt sich selbst auf.
Man könnte einwenden, die geschilderten Probleme seien struktureller Natur, an erster Stelle stehe die Veränderung des Systems und die führe ein Einzelner sicher nicht herbei. Wie ein Gespräch im 2015 erschienenen Band Der leidenschaftliche Zeitgenosse zeigt, hätte der Autor das früher genauso gesehen. „Ich hätte als junger Mann über den, der Brunnen in Afghanistan bohrt, gelacht“, so Willemsen, „hätte gemeint, dies sei ein Herumdoktern an Symptomen, das vor allem die politischen Akteure entlastet.“ Damit gibt er aber das beste Beispiel dafür, dass eine Veränderung der eigenen Sichtweise möglich und wichtig ist. Denn als ein Jahr später die Nachrufe auf einen der „beliebtesten Intellektuellen Deutschlands“ die Feuilletons schwemmten, erinnerten sie an einen Gutmenschen, der in Afghanistan Schulen baute und dessen Bücher vom Interesse an Einzelschicksalen bestimmt waren.
Wer waren wir nun eigentlich?
Nach den knapp 60 Seiten der Zukunftsrede bleibt das meiste offen, insbesondere die große Frage: Ja, wer waren wir nun eigentlich? An dieser Stelle sollte man aber nicht die besonderen Umstände außer Acht lassen, unter denen der Text veröffentlicht wurde. Als Roger Willemsen Ende 2015 seine Krebsdiagnose bekam, arbeitete er gerade an einem Buch mit dem programmatischen Titel Wer wir waren. Aus der Perspektive der „Nachzeitigkeit“ sollte es einen kritischen Blick auf unsere Gegenwart werfen. Mehrere noch im selben Jahr gehaltene Reden gaben erste Arbeitsproben preis, aus denen sich der nun vorliegende Text zusammensetzt. Die Entscheidung, diesen nach Willemsens Tod zu veröffentlichen, lag bei seiner Nachlassverwalterin Insa Wilke. Dass der Publikationswille also nicht vom Autor selbst kam, der Text zudem nur eine Ahnung des ursprünglichen Projekts geben kann, sollte man in die Beurteilung einbeziehen.
Und wenn man sich nach so fordernder Lektüre einen Hoffnungsschimmer wünscht, wird man auch da nicht enttäuscht. Beinahe versöhnlich bietet Willemsen uns die Supertotale an – wenn er beschreibt, wie die ersten Menschen, am Zenit ihres technologischen Erfolgs angekommen, die Erde verlassen. Die extraterrestrische Perspektive wird hier zum Gleichnis. Der Anblick des kleinen blauen Planeten, der unsere bislang einzige Lebensgrundlage ist, lehrt Demut. Wurde zuvor geschildert, wie der Mensch zugunsten der technologischen Vernunft bereitwillig seine Autonomie veräußert, so rehabilitiert er sich nun als ethisches Wesen. Mit ihm dürfen die Leser*innen also doch hoffen, handeln müssen sie selbst.
Roger Willemsen: Wer wir waren. Zukunftsrede. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 64 Seiten, 12 Euro. E-Book 9,49 Euro.
- Der Sommer ist noch nicht vorbei: Bücher für den Seetag - 12. August 2024
- „Taylor Swift geht nicht ohne Swifties“ - 17. Juli 2024
- Blitzinterview mit Paula Fürstenberg - 11. Juli 2024