Der preisgekrönte Schriftsteller Mathias Énard hat gemeinsam mit Comic-Autorin Zeina Abirached ein neues Buch geschrieben. Da das neue Buch Zuflucht erst im September erscheint, lohnt es sich, die kongeniale Graphic-Novel-Künstlerin genauer kennenzulernen.
Das geht zum Beispiel mit dem 2008 erschienenen Buch Ich erinnere mich. Zeina Abiracheds Geschichten aus Beirut sind bereits der zweite Comic, in dem die Autorin anekdotisch ihre Kindheit aufarbeitet. Ich erinnere mich ist ein Buch, nicht anklagend, nicht verzweifelt, nicht trist oder drohend, nicht naiv und nicht mutig.
Und das alles, obwohl die Reise zurück in den libanesischen Bürgerkrieg am Ende des 20. Jahrhunderts führt. Die Essenz des Buches liegt dann auch besonders in dem, was der Comic nicht erzählt.
„Frau Lehrerin, hier riecht’s nach Pfeffer.“ – „Das ist ganz normal. Pfefferkörner sind ein ausgezeichnetes Anti-Motten-Mittel.“
In der schützenden Umarmung der Familie, deren Leben Zeina Abirached hier portraitiert, spielt sich eine verblüffend normale Kindheit ab. Vor dem Fenster, auf dem Weg zur Schule und im Stadtzentrum fallen Granaten. Aber von ihnen wissen wir nur, weil Zeinas Bruder die schönsten Granatsplitter aus den Trümmern des Nachbarhauses birgt, um sie seiner Sammlung hinzuzufügen. Oder weil die Kinder in der Schule vom Pfeffergeruch in ihren Nasen niesen müssen.
Das Buch besteht nicht aus Schrecken, sondern aus liebevollen Anekdoten. Beim Lesen liegt ein Lächeln auf den Lippen, ganz so, wie es sich auch einstellt, wenn man an die eigene Kindheit zurückdenkt. An das Klackern der Kassetten, wenn man sie schüttelte, an den sehnlich erwarteten Anime und an die erste Lieblingssängerin. Über die Atmosphäre der Kindheitserinnerungen kommt der Libanon vertraut daher. Nur langsam wird die Situation durch zärtlich gezeichnete Details kulturell und historisch verortet. So konnte man zu Kriegszeiten nicht immer mit Gas heizen und wich dann auf Kerosin aus. Eine Szene zeigt, wie ein Korb aus dem Fenster bis zur Straße hinunter gelassen wurde, um so dem Fliegenden Händler einige Liter davon abzukaufen. Und wie bei diesen Händlern immer auch nach Tang, ein Instant-Fruchtpulver, für die Kinder gefragt wurde.
Ein Bilderbuch in Schwarz und Weiß
Die Welt, in die Abirached führt, ist paradox und kontrastreich. Ebenso kontrastreich wie die Bilder in Schwarz und Weiß oder die Mischung aus harten und verspielten Linien in Zeina Abiracheds Zeichnungen. Eigentlich ist es ein Zeichenstil wie in einem Kinderbuch, mit lustigen Gesichtern und simplen Formen.
Aber all die knalligen Farben, die in ein solches Kinderbuch gehören, existieren im Buch nicht. So meint man ein Album mit alten Schwarz-Weiß-Fotografien zu öffnen, in dem nur die schönsten, die kostbarsten Schnappschüsse aufbewahrt werden. Andererseits liegt im Schwarz und Weiß ein heftiger Widerspruch unterstrichen.
Der liegt zwischen dem Geschehen und den abgeklärten Reaktion der Figuren. Angst zeigt sich eigentlich nur nachträglich. Etwa, wenn sich die kindliche Protagonistin noch Jahre später als Erwachsene unter der Decke verkriecht, weil sie meint, draußen die Bomben fallen zu hören. Sorge zeigt sich in den stufenweise abgleitenden Mundwinkeln der Eltern und in ihren tiefer werdenden Falten.
Doch man lacht und man lebt. Für Zeina und ihren Bruder kommt vieles als Spiel daher. Die Einschusslöcher in der Karosserie des Familienwagens sehen aus wie ein Sternenhimmel. Was ihn wohl noch zusammenhält?
Das Buch selbst wird durch die Zeile „Ich erinnere mich“ zusammengehalten. Wie eine Zauberformel beschwört die Autorin damit die vergangene Zeit, die so lange zurückliegt, dass sie nur noch verklärt werden kann. Durch diese Verklärung hindurch wird bei Abirached das Unsägliche ausgedrückt und das nicht Darstellbare zu sichtbar. Anhand seiner Auswirkungen auf die Gegenwart. An eines aber erinnert die Protagonistin sich nicht. An das Ende des Krieges, der sie eigentlich nur im Nebensatz betroffen hat und doch in allen Lebenssituationen dieses Buches präsent ist.
Zeina Abirached, Ich erinnere mich. Beirut, 14,95 Euro
- Zuflucht nehmen auf der anderen Seite des Himmels - 31. Mai 2020
- Indiebookchallenge: Lies einen Comic #4 - 25. August 2019
- From Panels With Love #25: Richtig Grosze Kunst - 17. Juli 2019