Jackie Thomae hat einen Roman geschrieben, der weit mehr erzählt, als die Geschichte zweier gleichalter Brüder. In den Büroräumen von Hanser Berlin stellt die Autorin Brüder vor und gibt eine erste Kostprobe. Bei dieser besonderen Lesung mit Snacks und Gin & Tonic waren Lena und Karolin dabei.
Die beiden Brüder Mick und Gabriel, die dem Roman den Titel geben, teilen vor allem eines: einen Vater, den sie nicht kennen und der nach seinem Studium in der DDR das Land wieder verließ. Zurück bleiben zwei Frauen und zwei Schwarze Söhne in den siebziger Jahren, die im Laufe ihres Lebens nicht nur unterschiedlich mit ihrer Hautfarbe umgehen, sondern auch sonst auf den ersten Blick wenig Parallelen haben.
Mick, so erzählt es Jackie Thomae dem Publikum, ist ein Mann, der sein Leben auf dem Beifahrersitz lebt, auf der Suche nach Menschen, die genauso viel Spaß haben wollen, wie er. Von seiner Mutter in der DDR geboren und vor der Wende mit ihr nach Westberlin umgezogen, lebt er in den 90ern ein Berliner Partyleben, dem Jackie Thomae den Satz Man muss dabei gewesen sein voranstellt.
1990 war er zwanzig. Die darauffolgenden Jahre verbrachte er gebettet in das Gefühl von Reife und Überblick, das sich mit Anfang dreißig als komplette Fehleinschätzung heraustellen sollte. Seinen altersgemäßen Größenwahnsinn konnte er sich verzeihen, nicht aber seinen leichtsinnigen Umgang mit der eigenen Lebenszeit, obwohl auch dieser altersbedingt war, erwuchs er doch aus der kindlichen Illusion der Unsterblichkeit.
Und so lebt Mick: wie ein Unsterblicher, kein Gedanke an morgen. Seine Freund*innen machen es ihm leicht, dieses Leben zu leben, seine Freundin Delia, angehende Juristin, sieht in Mick die große Liebe und den Zugang zu aufregenden Abenteuern. Durch ihn sucht sie sich eine neue Rolle aus, wenn es um den zaghaften Versuch eines illegalen Geschäfts geht:
Delias Verwandlung von einer Gangsterbraut in eine eigenständige Gangsterin ging komplikationsloser vonstatten als alle anderen Metamorphosen, die sie bisher durchlaufen hat.
Doch irgendwann, und das will Mick nicht einsehen, wäre es auch für ihn an der Zeit, erwachsen zu werden. Mick scheint viele Fehler zu machen, Fehler, die fatal für seine Freund*innen sind, doch er ist so herzensgut dabei, dass es schwer fällt, ihn dafür zu verurteilen.
Ein Bruder, zwei Brüder
Seinen Bruder Gabriel lernen die Leser*innen erst um die Jahrtausendwende herum kennen. Über seine Kindheit und seinen Umgang mit Hautfarbe und Rassismus werden retrospektiv einige Details erzählt, doch Gabriel achtet darauf, als der erfolgreiche Architekt ohne weitere Vergangenheit wahrgenommen zu werden, der er sein will. Über ihn sagt Jackie Thomae, dass es eine ihrer Aufgaben war, den erfolgreichen, strebsamen und glatten Gabriel ebenso sympathisch zu zeigen wie seinen verspielten Bruder Mick. Mit dem frühen Wunsch sich im Leben einen festen Platz zu suchen, entscheidet sich Gabriel für eine Karriere, London, eine Frau, einen Lehrauftrag an der Uni und ein ganz bestimmtes Bild von sich selbst. Sein so sorgfältig errichtetes Image bekommt Risse, als er einen Fehler begeht, der anfangs noch harmlos zu sein scheint:
Dann machte ich den Fehler, eins der Mädchen zu imitieren, genauer gesagt, ihren dummen Gesichtsausdruck, der in seiner Dummheit jedoch so außergewöhnlich war, dass man sich fast fragen konnte, ob das Mädchen ihn sich als Markenzeichen zugelegt hatte, ob sie sich mit ihrem Selfie-Gesicht in mein Seminar setzte.
Von hier an wird Gabriels Geschichte von ihm und von seiner Frau Fleur erzählt. Von ihrem Kennenlernen, ihren oft so konträren und unausgesprochenen Wünschen und davon, was passiert, wenn ein bekannter Mann sich einen Fehltritt leistet.
Nach Momente der Klarheit die Brüder
Schon in ihrem Debütroman Momente der Klarheit, der 2014 bei Hanser Berlin erschien, schafft es Jackie Thomae mit präziser Sprache, einer hohen Dichte und einer großen Nähe zu den Figuren jede einzelne so zu zeichnen, dass sie lebendig vor den Leser*innen steht. Für Brüder nimmt sich die Autorin mehr erzählte Zeit, mehr Raum, mehr Seiten, um Mick und Gabriel, Delia und Fleur und all die anderen so lebendig zu machen, wie selten in einem Roman. Die „Langstrecke“, wie sie es selbst gegenüber der kürzeren Szenen ihres ersten Romanes nennt, liegt ihr so wahnsinnig gut, dass der über 400 Seiten starke Roman nicht an einer Stelle Längen aufweist. Jedes Detail ergänzt die Figuren passend, zeigt sie in ihren Widersprüchen und stellt sie dennoch nicht in Frage. Literarische Kunst ohne aufgesetzte Inszenierung. Auch auf eine einzige Perspektive, eine einzige Struktur muss sich die Autorin nicht festlegen. Organisch fließen die Teile des Buches, die Kapitel in- und umeinander. Das Cover greift geschickt das Thema Hautfarben auf und zeigt verschiedene Nude-Töne, die nicht nur Hellbeige oder Rosa sind, wie die Autorin anmerkt.
Jackie Thomaes Roman ist gleichermaßen witzig wie tragisch und schneidet Themen wie die deutsche Wendezeit, Rassismus in West- und Ostdeutschland, Familie und die große Liebe an. Er handelt von einer vergangenen Zeit – die 1985er bis 2017 – und ist erstaunlich aktuell. Die Autorin begann den Roman 2016 zu schreiben – vor dem Brexit und vor Donald Trump, wie sie erzählt – und verhandelt Diskurse, die sich in den letzten drei Jahren nur weiter verschärften. Ein sehr lesenswertes Buch mit einer Vielzahl von Dimensionen zum Eintauchen.
Brüder ist ein Roman, der genau beobacht, auf welches Leben die ungleichen Brüder in ihren Dreißigern und Vierzigern zurückblicken. Karsten Kredel, der das Buch lektoriert und den Abend moderiert hat, fasst es sehr passend so zusammen: „Jackie Thomae holt unglaublich viel Welt in die Geschichte von Mick und Gabriel.“
Jackie Thomae: Brüder, Hanser Berlin 2019.
Fotos & Text: Lena Stöneberg & Karolin Kolbe
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