Im Mai nutzte Potsdam den Windschatten Berlins für ein eigenes Literaturfestival. Dabei schmückte es sich besonders mit dem wohl bekanntesten Geschwisterpaar der Gegenwartsliteratur. Eva und Robert Menasse luden am letzten Tag der LIT:potsdam zur Matinee ins Hans-Otto-Theater.
Im Einheitsgrau der kalten Jahreszeit ist Potsdam neben seinem Bruder Berlin leicht zu übersehen. Doch mit der Rückkehr des Lebens in den Straßen putzt es sich alljährlich ordentlich heraus. Seine Einwohner finden, ihre Stadt sei die schöne Schwester Berlins, zumal sie mit einem eigenen Literaturfestivals aufwartet. Für die LIT:potsdam reisten aber nicht nur bekannte Berlicher Autoren aus der Nachbarschaft an. Doppelt stolz zeigt sich die Stadt, die aus Österreich stammenden Schriftsteller*innen Eva und Robert Menasse in das Kulturquartier Schiffsbauergasse gelockt zu haben. Hier plaudert man mit Moderatorin Marion Brasch über Europa, Familiengeschichte und Schreibstrategien. Das ist so bisher nur dem Spiegel gelungen, der 2018 mit den Geschwistern ein Interview veröffentlichte. Da die Menasses längst jeder für sich mit Literaturpreisen überhäuft sind, kann ein Hauch von Doppeltem Lottchen dem Image nur zuträglich sein. Marion Brasch, selbst in einer Künstler*innenfamilie aufgewachsen, will dann auch alle dunklen Familiengeheimnisse hören.
„Es ist schon ganz angenehm, hinter einem großen Dampfer zu segeln, der alles schon geregelt hat.“, meint Eva Menasse über ihren Bruder. Die Strategie, die Potsdam mit Berlin fährt, ist also nicht neu. Doch für die jüngere Schrifstellerin brachte der vorauseilende Ruf auch Nachteile. „Sind Sie…?“, wurde Eva Menasse schon an der Uni so oft gefragt, dass sie den Ausgang des Satzes nicht abwartete. Ja, sie sei die kleine Schwester Robert Menasses! Dieser dagegen fühlte sich oftmals von Vater Hans Menasse abgehängt, der Sportfans als Fußballer wohlbekannt war.
Die Präsenz der Geschichte
Die Veranstaltung beginnt mit ausschweifende Anekdoten. Darüber, wie der Vater versucht hat, Robert Menasse zum Automechaniker und Dreher zu machen – was nicht klappte – bis schließlich die Geschichten eine unerwartete Aktualität bekommen. Wurde eigentlich in der Familie eigentlich über Fluchterfahrung gesprochen? Der gemeinsame Vater war eines der 10 000 jüdischen Kinder, die 1938 nach Großbritannien transportiert wurden. Damals war er 16 Jahre und sprach kaum Englisch. Als er zurückkam, musste er das Deutsche neu erlernen. Emigration sei kaum ein Thema gewesen, erinnert sich Eva Menasse. Und wenn doch, dann konzentrierte man sich auf Positives, wie die vollendeten Englischkenntnisse der Vaters. Als allerdings die Mutter Robert Menasses ihre Kinder zweisprachig erziehen wollte, lehnte der Vater ab. Im deutschsprachigen Wien sollten seine Kinder nichts als Deutsch sprechen. Bis zu welchem Grad ist Integration gut und richtig?
Wiederkehrende Familienschicksale
Für beide Geschwister ist die unausgesprochene Vorgeschichte des Vaters eine Leerstelle, an die sie sich schriftstellerisch anzunähern versuchen. Eva Menasse hatte sich bereits von der Familiengeschichte zu ihrem Debütroman Vienna inspirieren lassen, Robert Menasse forschte dazu in „Vertreibung aus der Hölle“. Auf einer Ausstellung zu jüdischen Lebenswelten war er auf Rembrandts Gemälde des Rabbi Menasse Ben Israel gestoßen. Zuerst las er „Robbi Menasse“ – sein eigener Spitzname. Jener Rabbi hatte im 17. Jahrhundert erwirkt, dass erstmals seit 360 Jahren wieder Juden in Großbritannien leben durften. Auf dieser Basis konnte und musste viele Jahre später wieder ein Menasse per Kindertransport in England einreisen – ein Kreis schloss sich. Vielleicht ist es diese Geschichte des Hin- und Hergeschoben-Werdens über den europäischen Kontinent, der die Menasses zu politisch so aktiven Schriftstellern macht. Ganz sicher aber ist es auch die Tagespolitik selbst.
Kürze verträgt keine Komplexität
Am Vortag war gerade das Skandal-Video erschienen, das Österreichs Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache kompromittiert. Eva Menasse empörte sich, dass die Zeitung Der Standard daraufhin eine Mail mit sieben komplexen Fragen an Kulturschaffende verschickte, mit der Aufforderung, sie in 500 Zeichen zu beantworten. Zum Vergleich: 280 Zeichen umfasst ein Tweet. Kein Platz für auch nur eine vollständige Argumentationskette. So funktioniere jetzt der Journalismus in Österreich, urteilte Eva Menasse, seit 2003 Wahlberlinerin.
Dass Kürze und Komplexität sich nicht vertragen, wird am Drama-Thema Digitalisierung deutlich. Die Romanautorin Eva Menasse hält es für problematisch, dass Social Media negative Emotionen ungefiltert in die Öffentlichkeit katapultieren. So gelange alles unreflektiert nach außen, was man man früher nur an der Ehegattin oder dem Gatten auslassen konnte. Gespräch der Menasses beim Sonntagsfrühstück: die Upload-Filter. Der Sohnemann: „Die machen unser Internet kaputt.“ Eva Menasse dagegen wolle nicht, dass das Internet eine rechtsfreie Zone bleibt. Ihr Sohn habe seine Informationen von YouTubern, die ihren Zuschauern die Angst vor Artikel 13 einschärfen. Schade, dass zu diesem Zeitpunkt Rezos komplexe und gar nicht kurze Abrechnung mit der CDU noch nicht gab. Denn der Youtuber und Eva Menasse sagen an einer Stelle dasselbe: wir müssen darüber reden. Dass Rezo sein Video mehrfach als zu lang bezeichnet, sähe Eva Menasse als Roman-Autorin sicherlich nicht als Problem.
Robert Menasse auch nicht. Er habe sowieso immer gleich die richtig dicken Wälzer gelesen – Dostojewskij und Fontane –, um ganze Epochen zu verstehen. Romane seien die einzige funktionierende Zeitmaschine, sagt er. „Das ist eigentlich ein tolles Schlusswort.“, findet Marion Brasch, doch da wird Robert Menasse gerade erst warm. Wie gesagt: Länge ist kein Problem für Roman-Autor*innen. Plötzlich geht es noch um Hegel, um Marx und ganze Welten, die man mithilfe eines Romans ablegen, wegstellen und wiederaufnehmen kann. Doch für all diese Dinge ist ein Artikel zu kurz.
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