Die Apokalypse der Millennials

Die Vogelabbildungen auf dem Umschlag erinnern an ein ornithologisches Lexikon, der Titel wirkt wie eine Krimi-Überschrift. Jedoch ist Victor Pouchets Debütroman „Warum die Vögel sterben“ keines von beiden, sondern ein selbstreflexiver Bericht über die bis zur Aussichtslosigkeit banalisierte Leistungsorientiertheit der Generation Y.

Foto © Zita Balogh-Auer

Victor Pouchets Hauptfigur ist Victor Pouchet, ein in der Mitte seiner Promotionsarbeit feststeckender Student, der mit seinen neunundzwanzig Jahren halbwegs in Richtung seines ersten großen beruflichen Erfolges steuert. Er ist weder richtig erwachsen noch ein Kind. Als er erfährt, dass es in der Normandie, seiner Herkunftsregion tote Vögel regnet, entscheidet er sich dafür, die geheimnisvolle Erscheinung zu enträtseln.

Er wählt einen eher ungewöhnlichen Weg, um die an der Seine entlang liegenden  Städte, wo die Vorfälle passierten, zu besuchen: Er versucht, als wäre er der Protagonist eines griechischen Epos, Fährmänner zu überzeugen, ihn mitzunehmen. Der ironische Versuch, wie man es von einem, in der Gegenwart spielenden Roman erwartet, scheitert. Daher nimmt er also an einer mehrtägigen Ausflugsschifffahrt teil, umgeben von Rentnern und einem fantasielosen, organisierten Programm.

Dass er den Grund, warum die Vögel in Bonsecours und der Umgebung sterben, nicht enthüllen wird, ist vielleicht schon an diesem Punkt wenig überraschend. Da die Fahrt, wie sie Victor selbst bezeichnet, eher eine „Flucht zu einer Expedition“ ist, erfahren die Leser mehr über seine Unsicherheiten, als er selbst über die Vögel.

Die Exkursion zu seiner Heimatstadt ist voller Erinnerungen, Eindrücken und kritischen Selbstreflexionen, jedoch kann das Buch nicht als Bildungsroman verstanden werden, da es in der Welt des Ich-Erzählers keine Entwicklung gibt. „Ich war in einem Alter, in dem das Leben der meisten meiner Freunde in geregelten Bahnen verlief und sie ihre Karrieren und auf Dauer angelegten Beziehungen aufbauten“, erzählt Victor. Womit er aber gar nicht allein in seiner Generation ist, ist das grundlegende Erlebnis, dass er nirgendwohin gehört. Seine Freundin hat ihn verlassen, ihm fehlt die Motivation, mit seiner Doktorarbeit fort zu fahren, und mit seiner zersplitterten Familie hat er kaum mehr Kontakt. Als er von dem Vogelregen erfährt, scheint es so, dass diese Lücke mit etwas gefüllt werden kann. Die Medien berichten über die Vorfälle mit wenig Interesse, und wie Finkelsteins Figur nach den Attentätern der Pariser Terroranschläge, sucht Pouchets Ich-Erzähler besessen nach Spuren von ähnlichen Vorkommnissen online.

„Die Krise ist uns doch zur zweiten Natur geworden.

[…] Jeder lebt mit der Krise, in der Krise. Aber Vögel fallen vom Himmel, und keiner schaut hin.“ Als Millennial ist Victor Jahrzehnte nach den Kriegen und ’68, ohne jede beliebige Erfahrung des Sozialismus und insgesamt ohne große Weltereignisse aufgewachsen. Seine Generation kann die Welt nur durch die aktuellsten Katastrophen sehen. Die große Kindheitserinnerung, 9/11 ist nur aus dem Fernseher bekannt, dafür hat aber diese Generation ihre zwanziger Jahre mit Aufnahmen von verschiedenen Terroranschlägen verbracht. Kein Wunder also, dass sich Victor, als er von der neuesten Katastrophe, sogar am Schauplatz seiner Kindheit hört, für tiefere Ermittlungen entscheidet. „Sobald ein Vogel runterfällt, denkt man an mich“, hofft er, und diese Hoffnung besteht nicht nur aus Träumen von Expertise und Berühmtheit, sondern auch aus dem Wunsch, irgendwohin zu gehören.

Auf dem Weg nach Bonsecours, dem Wohnort seines Vaters, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, ereilt ihn die Enervierung Houellebecqs, doch leider nicht in dem satirischen Sinne. Es wäre natürlich keine Erwartung von männlichen französischen Debütanten, Houellebecqs Stil nachzuahmen, Pouchet konnte sich aber offensichtlich von diesem Einfluss nicht befreien. Die gründlichen und gleichzeitig distanzierten Beschreibungen seiner Umgebung, ein vieltrinkender Mitreisender, ein One-Night-Stand und die normative Charakterisierung der Frauen erinnern viel zu viel an die Erzählweise des meistbekannten französischen Autors der Gegenwart – und schwächen damit die Qualität des ansonsten vielsprechenden Buches. Zum Glück ist Pouchets eigenes Thema stark genug, dem Roman authentische Eigenschaften zu verschaffen.

Auf der Suche nach den geheimnisvollen Vogelstürzen, findet Victor die Spur einer vergessenen historischen Persönlichkeit: ein Naturwissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts, Félix-Archimède Pouchet. Ähnlich wie im Fall der Naturkatastrophe, erfährt der Erzähler nie, ob es sich tatsächlich um seinen Vorfahren handelt. Er gestaltet trotzdem eine Art emotionale Verknüpfung zu ihm, und zwar durch das Scheitern, eine Erfahrung, die für die Generation Y so typisch ist. Er ruft sich die Worte seiner Ex-Freundin zurück ins Gedächtnis. Ihrer Meinung nach es Menschen „heutzutage an Meistern im Scheitern mangele, an Ratgebern für gelungene Niederlagen.“ Der ehemals große Naturforscher, der mit seiner These zur Spontanzeugung gegenüber Pasteurs Ergebnissen versagte, scheint für Victor eine vertrauensvolle Parallele zu sein: jemand, der seinen Namen trägt und keinen Wettbewerb gewonnen hat, trotzdem steht seine Büste vor einem Naturkundemuseum.

In seiner fast vergessenen Heimatstadt, nach der Lösung eines großen Rätsels suchend findet Victor nicht mal seinen eigenen Vater wieder. Während er ihn von dem väterlichen Haus aus telefonisch zu erreichen versucht und zufällig ein potenzielles Familienmitglied findet, merkt der Ich-Erzähler erst, dass sich seine Kindheitsträume von Unabhängigkeit radikal erfüllen. Jedoch ist die Familienlosigkeit und das Nirgendwohin-gehören gar nicht so süß, wie er es sich in seiner Kindheit vorgestellt hatte.

„In Wahrheit war ich jedoch von allem und jedem abhängig“,

gibt er über seine Situation zu.

Während er den Ort seiner Zugehörigkeit sucht, setzt der Vogelregen wieder ein. Als der geheimnisvolle Regen sich weltweit verbreitet, kann Victor jedoch nicht mehr von der Berühmtheit eines, die Naturkatastrophen enträtselnden Naturforscher-Nachkommen träumen. Was ihm übrig bleibt, ist ein „Weltende vor der Haustür“, eine komplexe Apokalypse seiner Zeit, die in seiner mangelnden Zugehörigkeit auch nur eine temporäre Heimat werden kann.

 

*Victor Pouchet ist französischer Schriftsteller. „Warum die Vögel sterben“ ist sein Debütroman.

Pouchet, Victor: Warum die Vögel sterben. Berlin Verlag 2019. Aus dem Französischen von Yvonne Eglinger.
Zita Balogh-Auer
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