Etwas Schlimmes ist passiert im Debütroman Nördlich der Mondberge der britischen Autorin I.J. Kay. Schnell wird deutlich: nicht nur einmal.
Lulu lebt mit ihrer Familie in einer Vorstadt von London und erfährt hier seit früher Kindheit Gewalt. Gewalt ist die Normalität, der sie sich nicht entziehen kann. Der prügelnde Stiefvater, die verständnislose Lehrerin, der passive Polizist und immer wieder die demütigende Mutter.
Mama muss schlimmere Wörter finden, damit die mich in die Kniekehle treten und ich weinend auf den Teppich fall. […] „Du verdankst mir viel. Du verdankst mir alles. Schulden nennt man das. Weißt du, was das ist: Schulden? Es steht im Wörterbuch.“ „Ich zahl sie dir zurück“, sag ich, „wenn ich großgewachst bin.“ „Ach ja? Die Wahrheit ist: Du könntest sie mir in deinem ganzen Leben nicht zurückzahlen. Herrgott nochmal, ich war im Royal Ballet! Mein Name stand am Royal Opera House. In Leuchtbuchstaben.“ Hab ich Glück: Gerade als die Glocken in meinen Ohren mit Läuten anfangen und ich total taub und blind bin, sind Mamas Embassys alle und ich muss welche kaufen gehen.
Die Mutter lehrt die junge Lulu im richtigen Moment zu applaudieren, wenn sie zu Hause ihre Bühnenlieder vorsingt. Mehr als applaudieren darf die Tochter aber nicht, außer Worte im Wörterbuch nachschlagen. Das ist Lulus Art zu lernen, denn von Schule hält die Mutter nichts. Wenn sie ihre Tochter „Weißt du was MACHT ist?“ fragt, dann kann sie sich gewiss sein, dass Lulu das Wort nachschlagen wird. Durch die Einblicke in den Familienalltag scheint es, dass der zehn Jahre währende Gefängnisaufenthalt zwischen 21 und 31 nur konsequent ist.
Der Roman besucht Louise in drei Lebensphasen: als Kind, mit Anfang zwanzig und mit Anfang dreißig. Dazwischen liegt die Gefängniszeit, davor die Zeit des Untertauchens.
Louises anfangs falsche Sprache wird mit den Jahren korrekter, wenn auch nicht fehlerfrei. Ein Wörterbuch ist immer in ihrer Nähe. So macht sie sich seit Kindertagen charakteristische Wortschöpfungen zu eigen, die ihr auch als Erwachsene noch entschlüpfen.
Genau wie die Sprache, zieht sich die Gewalt zyklisch durch ihr Leben, sie erfährt Gewalt, sie verteilt Gewalt in oft unaufgeregten Schilderungen. Nicht immer sind es Schläge, oft sind es Worte. Es ist der Grundton des Romans, niemand erfährt, wie laut die Protagonistin ihn hört. Laut scheint er immer dann zu sein, wenn sie Alkohol trinkt und mit Anfang zwanzig das Haus mit der „walisischen Schlampe“ Gwen teilt.
Das Paris-Gemälde würde ich gerne erschießen und dann den Mann aufspüren, der es gemalt hat. […] Den Butangasofen und die Stereoanlage würde ich auch erschießen. Und das Auto. Ich würde das Pferd erschießen- direkt in die Schläfe, damit es nicht wehtut-, und danach den Hund. Gwen würde ich mir bis zum Schluss aufheben. Für eine Knarre würde ich jetzt alles geben, notfalls sogar meinen rechten Arm. Den linken würde ich noch brauchen, um mich selbst zu erschießen. Den Lauf würde ich fest gegen den Gaumen pressen, und dann den Abzug drücken.
Doch dann ist da noch Afrika, die Mondberge, der Sehnsuchtsort, den ihr der Großvater in Kindertagen mit Bildern und Büchern schmackhaft machte und guter Grund, sich eben nicht zu erschießen. Afrika ist ihre Konstante, wenn Geschwister und Verwandte sie verlassen, wenn Freundschaften sich als Zweckgemeinschaften entpuppen, wenn sie wieder einmal einen neuen Namen wählen muss und ein Mensch ohne Vergangenheit wird. So erscheint es als mögliche Lösung, dass Louise sich nach dem Gefängnisaufenthalt den Traum von der Reise zu den Mondbergen erfüllen will. Was sie dort sucht, weiß sie selbst nicht, was sie finden wird, reiht sich in die Begebenheiten ihres Lebens ein. Über die Jahre hat Louise ein erschreckend spielerisches Verhältnis zum Tod entwickelte und weit weg von Großbritannien begegnet ihr mal wieder die fließende Grenze zwischen Leben, Gewalt und Tod.
Doch Louise hat auch das, was sie als Glück bezeichnet. Eine tiefe Freundschaft zu wenigen Menschen, ein besonderes Verhältnis zu Bäumen und der Natur, eine Stange Schmerzensgeld. Und wenn sie all das wieder einmal verliert, dann akzeptiert sie das. Sie ist zu klug, um lange am Glück festzuhalten. Trotzdem wird die Geschichte nicht schwerfällig, nicht tieftraurig. Es gibt die lustigen Momente, wenn Louise mit einer kleinen Gruppe Rentnerinnen und Amerikaner im Pauschalreisebus durch Afrika reist.
Chronologisch sind die voneinander getrennten Teile des Romans nicht, damit fordert er die Aufmerksamkeit der Leserin. Belohnt wird das von einer sich entfaltenden Geschichte und vielen spät verstandenen Hinweisen. Auch deswegen gelingt es Louises Charakter hervorzuheben, ihre Erfahrungen zu schildern. Von den Menschen in ihrem Leben wiederum entsteht ein distanziertes Bild gefiltert durch ihre Augen.
Manchmal tut es beinahe weh, den Text zu lesen, doch es lohnt sich. Mehr Struktur und weniger Szenensprünge innerhalb kurzer Abschnitte würden dem Verständnis dennoch guttun.
Es geht im Roman nicht um das eine schlimme Ereignis, das Louise ins Gefängnis brachte, nicht um den Höhepunkt, nicht um Rache, nicht um das Finden des endgültigen Glücks. Es geht um die schmerzlich deutliche Kette von Geschehnissen, die nicht endet, so sehr man es Louise wünscht.
I.J Kay: Nördlich der Mondberge, Kiepenheuer & Witsch 2015.
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