Um fünf Uhr morgens vor der Schule trainieren – Alltag für Amateursportlerin Tillie Walden. In ihrem autobiografischen Comicroman „Pirouetten“ erzählt sie vom Heranwachsen in einer glitzernden Eiskunstwelt, vom nicht endenden Fremdeln mit dem Betrieb und von der ersten großen Liebe mit Klassenkameradin Rae. Coming-Off-Age und Coming-Out.
Training vor der Schule, Training nach der Schule, Turniere am Wochenende mit viel Make-Up und glitzernden Kleidern – Alltag für die 12-jährige Amateursportlerin Tillie Walden. Doch Tillie ist keine Eislaufprinzessin wie sie im Buche steht – die Scheinwelt ist ihr zuwider. Eine Eislaufmutter mit viel Erhrgeiz und ungesunden Erwartungen hat sie nicht. Ehrgeizig ist Tillie selbst und sie liebt das Abliefern, das Brillieren, das Gewinnen. Doch nach fünf Jahren exzessivem Training, ermüdet Tillie der Sport. Dazu kommt das Mobbing in der Schule.
Coming-Out und Coming-Off-Age
Tillie weiß schon immer, dass sie lesbisch ist. Als sie 14 ist, verliebt sie sich in Mitschülerin Rae und die Mädchen erleben gemeinsam die erste große Liebe – eine wunderschöne Erfahrung für beide, die jedoch ein jähes Ende nimmt: Raes Mutter erfährt von der Beziehung der Schülerinnen und erzwingt einen Kontaktabbruch. In Tillies Zeit des Erwachsenwerdens fällt also auch ihr Coming-Out, für das sie sich nach dem Ende der Beziehung entscheidet. Ein aufwühlender Lebensabschnitt für Tillie, in dem ihr trotz aller Zweifel der Sport und auch ihre Cello-Lehrerin Halt geben.
Details ohne Faktualität
Tillie Walden schreibt im Nachwort über ihre Motivation für das Buch:
Nicht meine Erinnerungen möchte ich erzählen, sondern meine Empfindungen.
Vielleicht ist gerade deshalb ein fast 400 Seiten umfassender Comicroman entstanden, der mittels der Variation des Farbschemas und der Panelgröße Emotionen in Bilder überträgt. Von einseitigen Formaten über 16 Panels pro Seite bis hin zu Abstufungen von violett und gelb – das sind die Instrumente, die die Autorin verwendet, um Pirouetten bildlich zu erzählen.
Dabei bleibt das Eiskunstlaufen immer Metapher. Besonders eindrucksvoll ist deswegen die Abschnitteinteilung, die unabhängig vom Inhalt des nachfolgenden Kapitels auf das Eistkunstlaufen bezogen wird. Tillie stellt je eine Figur vor und bewertet sie. „Nach ein paar Gegenwenden suchte ich immer nach der vollkommenen Spur im Eis“, schreibt sie und referiert auf ihren Ehrgeiz und das Streben nach sportlicher Perfektion.
Tillie Walden gelingt es, empathisch aus der Sicht der Heranwachsenden zu erzählen, anstatt in der Rückschau die eigene Pubertät zu beleuchten: So wie die Protagonistin selbst, versteht die Leserin nicht, weshalb Tillie den Sport nicht aufgibt, wenn er sie nur noch ermüdet. Es ist die Sicht der Heranwachsenden zwischen Kind und Frau, die mit mutigen Entscheidungen aber auch mit pubertärer Passivität auf die Herausforderungen des Erwachsenwerdens reagiert.
Fazit
Ich werde immer wieder gefragt »Worum geht es in dem Buch?« Und nach wie vor antworte ich: »Ums Eislaufen.«
Die Sicht der Pubertierenden mag für erwachsene Leser*innen eine Herausforderung sein. Gleichwohl ist es beeindruckend wie diese Innensicht gelingt. Pirouetten überzeugt außerdem durch seine universale Gültigkeit für Coming-Out und Coming-Off-Age. Wie hat es Walden geschafft, eine autobiografische Erzählung über das Eiskunstlaufen zu schreiben, in der es trotz seiner Omnipräsenz so wenig um den Sport geht? Es ist wohl die Tatsache, dass sie Empfindungen erzählt und keine Erinnerungen. Ein Buch, das auch Leser*innen im Teenager-Alter empfohlen sei.
Tillie Walden auf Lesereise
Ab dem 22. November geht Tillie Walden auf Lesereise in Deutschland und Österreich. Den Auftakt gibt sie am Donnerstag in der Berliner Stadtbibliothek am Luisenbad. Weitere Infos und alle Termine der Lesereise gibt es hier.
*Tillie Walden (Jahrgang 1996) wuchs in New Jersey und Texas aus. Die Comiczeichnerin wurde bereits mehrfach mit dem Ignatz Award ausgezeichnet. Mit Pirouetten wurde sie 2018 für einen der wichtiges US-amerikanischen Auszeichungen für Comicschaffende nominiert, den Eisner Award.
Tillie Walden: Pirouetten. Reprodukt 2018.
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