Von der Macht der Geschichten – das ilb 2018

Zum 18. Mal fand im September das internationale Literaturfestival Berlin statt. Mit mehr Reihen, Specials und Formaten denn je. Über eine Woche lang gaben sich Autor*innen aus den unterschiedlichsten Ländern die Klinke in der Hand, um eine Vielzahl von Geschichten quer durch alle Genres zu erzählen.

Bühne Publikum © Hartwig Klappert
Bühne Publikum © Hartwig Klappert

Das 18. internationale Literaturfestival Berlin war mal wieder ein Fest. Ein Fest der Geschichten. Besonders die vielen spannenden Reihen zu Decolonizing Worlds, Nature Writing, Politics of Drugs u.v.m. haben in diesem Jahr das umfangreiche Programm beherrscht. Das Festival kam mir politischer vor denn je. Debatten auch zu schwierigen Themen sind hier ausdrücklich gewollt. Das macht für mich den Charme des ilb aus. Fast jede Veranstaltung belebt mich, regt Gedanken und Ideen an. Im Folgenden möchte ich die Veranstaltungen schildern, die mich in diesem Jahr am meisten beschäftigt haben. Auch Theresa war auf dem ilb und hat von ihren Erlebnissen berichtet.

 

Trauma und Erzählung

Justine Hardy ist Psychologin und hat lange in Kaschmir gearbeitet, “dem Land der Storyteller”. Sie unterscheidet drei Sphären im Leben, die von Geschichten beeinflusst werden. Es gibt die Geschichten, die aus der Welt zu uns gelangen, die Geschichten, die wir der Welt über uns erzählen und Geschichten, die wir uns selbst über uns erzählen. Die zweite und dritte Kategorie können wir beeiflussen und darin liegt Macht, unter anderem für die Traumabewältigung. Man muss nicht von der eigenen Geschichte kontrolliert werden, wenn man sich der Macht bewusst wird, sie umzuschreiben. Darum geht es bei ihrer Arbeit. In Zusammenarbeit mit dem British Council hatte Frau Hardy einige Tage vor der Lesung in Berlin ein „Storytelling for Resilience“ Training für Geflüchtete in Kooperation mit den Organisationen Questscope und MeWe veranstaltet. Einen kleinen Einblick gaben uns Zozan, Salman und die brillante Übersetzerin Victoria Hugelsdorfe. Salman hat es geschafft, eine bedrückende und zutiefst frustrierende Lage in eine sehr humorvolle Liebesgeschichte umzudeuten. Auf die Frage, warum Humor im Zusammenhang mit schrecklichen oder gar traumatischen Erfahrungen wichtig ist, sagt er: “Es ist schwerer, jemanden zum Lächeln zu bringen als zum Weinen.” Ein toller Einblick in die sehr persönliche Traumabewältigung anhand von Storytelling und psychologische Empowerment-Arbeit. Auf die Frage aus dem Publikum, wo die Macht des Geschichtenerzählens ihre Grenzen hat, sagt Justine Hardy: “Im Tod.”

 

Decolonizing sex & gender

In zwei spannenden Panels wurde darüber diskutiert, wie Geschlechterrollen aus kolonialen bzw. postkolonialen Perspektiven verstanden werden können, wo es in der Geschichte (vor allem außerhalb von Europa) Erzählungen über die verschiedensten nonbinären, queeren Figuren aus der Menschen- und Götterwelt gab, an die man anknüpfen kann und wie der Kolonialismus sich auf das Verständnis von Geschlechterrollen und sexueller Orientierung ausgewirkt hat. Auch die Frage, was “queer” alles sein kann, beschäftigte die Gemüter.

Im zweiten Panel ging es um verschiedene Ansätze intersektionaler Feminismen. Die Themen reichten von Feminismus im Islam, über die Erfahrungen schwarzer Frauen in aktivistischen Bewegungen, innere Dekolonialisierung, Intersektionalität bei rassistischer Gewalt bis hin zu verschiedenen, sich konträr entgegenstehenden Perspektiven auf internationale Adoptionen, die alle feministisch sind. Spannende Fragen, tolle Menschen und wichtige Geschichten gaben sich hier auf der Bühne die Klinke in die Hand.

 

Philosophen duellieren sich mit großen Namen

Jenseits des Westens ist ein philosophisches Reflexionswerk, das „den Westen dekonstruiert“, da waren sich der Autor Stefan Weidner und Moderator Thomas Schmidt einig. Es geht zurück in die westliche Philosophiegeschichte, beschreibt, wie Natur und Naturgesetze irgendwann an die Stelle von Gott rückten und zeigt jenseits dieser Tradition andere Ansätze auf. Inwiefern auch in den alternativen Ansätzen, die Weidner vorstellt, dann auch wieder eine transzendente Einheit oder ein Gott vorkommt, ist Hauptgegenstand der Diskussion und da sind die beiden sich dann nicht mehr so einig. Viele spannende Fragen werden angerissen und für weitere spannende Fragen oder große Namen wieder fallengelassen. Es geht darum, das jeder Mensch ein Recht auf Rechtssicherheit hat, wie auch immer die konkreten Gesetze dann aussehen, darum, wie man Ethik begründen kann, um Konzepte wie Individualismus und Freiheit, um die Frage, wie man handeln kann, ohne zum Sklaven des eigenen Handelns zu werden und um die entsagende Freiheit des gewaltsamen Widerstandes. Leider vergessen die Herren auf der Bühne scheinbar immer wieder das Publikum und ich hatte mehr den Eindruck, zwei Philosophen duellieren sich mit großen Namen und Theorien, als dass sie eine stringente Argumentation verfolgen oder gar uns ein Buch vorstellen. Für Insider womöglich ein großes Vergnügen. Die Lektüre war für diese Lektion vielleicht auch vorausgesetzt und ich hab mich einfach nicht ordentlich vorbereitet.

 

Über Wut, Musik, Gedankenpuder und das Scheißen der Zukunft

Mein persönliches Highlight war das U20 Poetry Slam Finale. Die 12 Finalist*innen haben sprachlich wie thematisch eine beeindruckende Vielfalt geboten: Es war poetisch, ernst, mutig, emotional, witzig, clever, souverän, ehrlich, aufrichtig, pointiert und last but not least fantastisch vorgetragen. Die Geschichten handelten von Freundschaft, Liebe, Trennung, Schmerz, Einsamkeit, Vergangenheit und Zukunft, Kindheit und Erwachsenwerden und vor allem jede Menge Musik. In einem wunderbar poetischen Text über Nervenzellen und Gedankenpulver wurde die Fragen gestellt, warum wir nicht das Gleiche denken, wenn unsere Nervenzellen doch gleich aufgebaut sind und wie es sein kann, dass ein Haufen Atome so schön sein kann. In einer überzeugend argumentierten Anklage wurde die Frage gestellt, ob der Fehler im System ein Kind sein kann, wenn es unter dem Druck und den Anforderungen der Schule und Eltern droht, zusammenzubrechen . Tolle Reflexionen und wichtige Anregungen über Noten, Individualismus, Vorschriften beim Bildermalen, die Wertschätzung von Haupt- und Nebenfächern, Bulimielernen und das Leben nach der Schule, die Eltern und Schulen sich ruhig mal in Ruhe anhören sollten!

Außerdem gab es einen leidenschaftlichen Liebesbrief an Berlin und die Vielfalt. Sogar die Bli-Bla-Blub-Partei schickte einen Vertreter, der eloquent infrage stellte, ob Sani-Fair-Toiletten wirklich fair sind und über „das Scheißen der Zukunft“ referierte. Als Siegerin ging Rosi mit ihrem Text „Wut, Sterne, Ampelmännchen und du“ aus diesem hochkarätigen Finale hervor. Der Titel sagt bereits alles. Ich kann allen nur von Herzen empfehlen, mal zu einem U20 Poetry Slam Finale zu gehen, es ist ein bereicherndes Erlebnis!

 

Überleben im Gulag dank Grafologie

Im angenehmen Austausch mit der Moderatorin Hannah Lühmann erzählt Steffen Mensching liebevoll von seinen Figuren und den umfangreichen Recherchen für das Buch Schermanns Augen, die ihn über 12 Jahre beschäftigt haben. Es geht um zwei Gefangene in einem russischen Straflager. Dort treffen sich Otto Haferkorn, ein überzeugter Kommunist, und Rafael Schermann, ein bekannter Grafologe im Wien der 20er Jahre. Schermann gab es wirklich, durch Zufall ist Steffen Mensching auf ihn gestoßen. Der Lageraufenthalt und die Freundschaft zu Haferkorn sind jedoch fiktionalisiert. Haferkorn beginnt, als Übersetzer und Assistent für Schermann zu arbeiten, der sich durch seine grafologischen Fähigkeiten immer mehr Macht und Einfluss im Lager erarbeitet. Den Autor trieb die Frage um, ob Schermann ein Genie, ein Scharlatan oder beides gewesen sei. Bis heute hat er keine abschließende Antwort gefunden. Dieser unentschlossene, teils bewundernde und teils skeptische Blick auf Schermann spiegelt sich in Haferkorn. Der glaubt nach wie vor an das System, wie die anderen politischen Gefangenen denkt er, sein Nachbar sei wirklich schuld und nur bei ihm habe man sich geirrt. Im Gegensatz dazu scheint Schermann nur auf sein eigenes Wohl fokussiert zu sein. Die beiden sind aufeinander angewiesen und ihre unterschiedlichen Blickwinkel ergeben ein wunderbar komplexes Bild, garniert mit sehr amüsanten Wortwechseln zwischen den ungleichen Partnern. Steffen Mensching hat viele (Auto-)Biografien über die beschriebene Zeit gelesen und festgestellt: “Ohne Humor und Leichtigkeit überlebt man so etwas nicht.” So sollen es auch Humor und Leichtigkeit sein, die Leser*innen durch die 820 Seiten dieses durchaus auch harten und bedrückenden Romans tragen.

 

Heldinnen im Schatten der Geschichte

Rick Stroud ist Filmemacher und Buchautor. Schon lange beschäftigt er sich intensiv mit dem Zweiten Weltkrieg. “Egal, wo ich bin, immer findet in meinem Kopf ein Kampf statt, der mich zwingt, mich mit dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen.” In seinem jüngsten Werk Lonely Courage: The True Story of the SOE Heroines Who Fought to Free Nazi-Occupied France beschäftigt er sich mit einem wichtigen Kapitel des Krieges, das es schändlicherweise kaum in das gesellschaftliche Gedächtnis geschafft hat: Frauen, die im besetzten Frankreich als Spioninnen gearbeitet und Großes geleistet haben. Dieses Thema fasziniert den Autor seit seiner Kindheit. Es sind ganz gewöhnliche Frauen mit den unterschiedlichsten Hintergründen, oft aus einfachen Arbeiterfamilien, die diesen Weg gingen und in zahlreichen Situationen enormen Mut bewiesen. Das ist auch das zentrale Thema des Buches, so Stroud: Egal, wie überwältigend die Kräfte des Bösen um dich herum sind, so ist es trotzdem deine Pflicht, alles in deiner Macht Stehende zu tun, um sie aufzuhalten. Daran glaubten diese Frauen. Sie wollten gegen die Nazis kämpfen, ihnen nicht das Feld überlassen. Stroud hat kein Sachbuch geschrieben. Obwohl er intensiv in Archiven überall auf der Welt recherchierte und sich mit vielen Expert*innen vernetzte, so wollte er beim Schreiben doch romanhaft und spannend die unglaublichen Geschichten von sieben Frauen erzählen. Persönlich, abenteuerlich, unglaublich, bewegend – und historisch akkurat. Einige der mutigsten individuellen Taten des Krieges wurden von diesen Frauen begangen, es sind gute Geschichten. Besonders nah geht Stroud nicht nur der schier unfassbare Mut der Frauen, sondern auch die Inkompetenz der patriarchalen Organisation, der die Spioninnen unterstanden. Unnötige Fehler und Ignoranz, die einen Nazi-Spion in den eigenen Reihen möglich machten, kosteten viele das Leben. Dazu kommt natürlich noch eine gute Portion Sexismus und Ungerechtigkeit. Zum Beispiel bekamen männliche Spione einen militärischen Rang verliehen, damit sie im Falle der Gefangennahme nicht als Spione, sondern als Soldaten behandelt würden. Frauen wurde diese Maßnahme nicht zuteil. Ein sehr spannendes Thema, das der Autor mit ansteckender Begeisterung angeht. 

Charlotte Steinbock
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