1994 in Ostsachsen geboren, hat der junge Autor Lukas Rietzschel reichlich Erfahrung in Sachen sächsische Provinz. Davon handelt auch sein Debütroman „Mit der Faust in die Welt schlagen“. Für das Manuskript wurde er bereits 2016 mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet. Jetzt erscheint das fertige Werk, das vor allem dem Westdeutschen einen eindringlichen, seltenen Einblick in ein anderes Leben ermöglicht.
An Lukas Rietzschels Stil muss man sich erst gewöhnen. Sätze, die mittendrin anfangen und deren Subjekte verloren gegangen sind. Ein rauer Tonfall. Dazu kommt die bedrückende Stimmung, in die er nicht etwa sanft einführt, sondern die er gleich wie eine Ladung bitterkalten Winterwind auf den Leser loslässt. Deswegen braucht es eine Weile, bis man sein Buch tatsächlich freiwillig in die Hand nimmt – es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass er sich vor Unschönem gerne versteckt. Und bereits nach den ersten paar Seiten von „Mit der Faust in die Welt schlagen“ weiß man genau, dass da jede Menge Unschönes auf einen wartet. Ich kann vorweg sagen: Es lohnt sich, dieses Bauchgefühl zu ignorieren und weiterzulesen.
Denn der Schauer, der einem schon bald ob der grauen, leeren, endlos trostlosen Szenerie über den Rücken läuft, kommt ja nicht von ungefähr. Er ist dem Talent des Autors geschuldet, Atmosphäre und Stimmung zu erschaffen. Das ist der große Erfolg dieses Buches: Man bekommt, womöglich zum ersten Mal, ein Gefühl für das Leben in der sächsischen Provinz. Und allmählich bahnt sich ein Aha-Effekt an: Plötzlich macht es Sinn, warum rechtes, fremdenfeindliches und auch hasserfülltes Denken hier so leicht entstehen kann.
Im Mittelpunkt der Handlung stehen die zwei Brüder Philipp und Tobias, die zu Beginn der Erzählung sehr jung sind und im Laufe der Handlung zu Erwachsenen heranwachsen. Mit ihren Eltern wohnen sie in einem sächsischen Dorf und wachsen wohlbehütet auf, wenn auch mit wenig emotionaler Wärme. Die Kälte ist im Buch überall spürbar: im Verhalten der Eltern – wenn die Familie gemeinsam am Esstisch sitzt, wenn der Vater den Kindern gute Nacht sagt oder bei der weihnachtlichen Bescherung –, in der landschaftlichen Beschreibung des Dorfes mit seinem dunklen Wald, dem Schulhof mit den Trinkpäckchen auf dem Stromkasten oder dem trostlosen Jahrmarkt; und auch bei den zwei Jungs, in denen sich immer mehr ein Gefühl von Machtlosigkeit, Gleichgültigkeit und einer alles überschattenden Sinnlosigkeit breitmacht.
Statt den Leser mit Erklärungen zu belehren, lässt der Autor Situationen für sich sprechen. Auf dem Schulhof hat jemand ein Hakenkreuz auf einen Stein gemalt, und der Schulleiter versucht es verzweifelt wieder zu entfernen, während ihn die Schüler aus dem Klassenzimmer beobachten und auslachen. Die zwei Jungs sitzen mit den Großeltern vor dem Fernseher und sehen fassungslos dabei zu, wie ein Flugzeug ins World Trade Center fliegt. Tobias, der Jüngere der beiden Brüder, wird von der Klassenlehrerin erniedrigt, weil er eine Aufgabe – Blätter sammeln und deren Herkunft aufzeichnen – falsch bearbeitet hat, obwohl er viel Mühe hineingesteckt hat. Es sind Momente, die sich einbrennen und immer wieder ein Gefühl von Leere hinterlassen. Hier laufen Dinge falsch und Gefühle werden enttäuscht, ohne dass dieser Enttäuschung Raum gegeben wird. Wieder und wieder. Bis es zu viel ist.
Manchmal drückt der Autor dabei zu offensichtlich in die Wunde und setzt in bereits sehr deprimierenden Situationen ein Detail zu viel oben drauf, was die Authentizität und Beispielhaftigkeit der Geschichte gefährdet. Öfters sind Gesten, Dialoge und Verhaltensmuster der Figuren zu schnell als Symbole erkennbar und wirken inszeniert und auch vorhersehbar. Der Vater, der nie spricht, der einsame Arbeitskollege, bei dem von Anfang an klar ist, was mit ihm passieren muss. Die überdeutliche Dichotomie der Charaktereigenschaften der beiden Brüder: Philipp, der Ältere aber Ängstliche, Tobias, der Unterschätzte und Wütende. Aber über Schwächen lässt es sich immer hinwegsehen, wenn die Auswirkung, die die Lektüre eines Buches auf einen hat, am Ende stimmt. Das ist hier definitiv der Fall: Man geht mit einem neuen Verständnis für die aktuelle Lage in Deutschland aus der Lektüre, und dem Gefühl, ganz nah an den Kern eines Problems herangekommen zu sein. Das macht „Mit der Faust in die Welt schlagen“ zu einem gesellschaftlich relevanten Werk.
Lukas Rietzschel, "Mit der Faust in die Welt schlagen" Ullstein Buchverlage, September 2018 Hardcover, 320 Seiten, 20€
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