Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki wird am 2. Juni 90 Jahre alt
Das Publikum lachte verhalten. Es verstand wohl die Tragweite der Worte nicht, die Marcel Reich-Ranicki bei der Verleihung des Fernsehpreises 2008 vom Podium spuckte: „Ich kann nur diesen Gegenstand von mir werfen. Ich kann das nicht annehmen.“ Reich-Ranicki beleidigte die anderen Preisträger des Abends, wollte nicht mit ihnen in einer Reihe stehen, lehnte den Preis für sein Lebenswerk ab und nannte das zuvor Prämierte „Blödsinn“. Thomas Gottschalk eilte auf die Bühne und sagte tatsächlich, nachdem er selbst die Sendung moderiert hatte: „Sie haben wie immer Recht.“ Das Publikum klatschte.
Stimmt man heute Ranicki zu – in welchem Punkt auch immer –, begibt man sich augenblicklich in eine Verteidigungshaltung. Anschließend imitiert mindestens die Hälfte der dabei Anwesenden seinen Akzent. Das kann bekanntlich jeder, jeder kann aber auch in die Ecke scheißen. Und? Macht das irgendwer?
Sich über Reich-Ranicki lustig zu machen, ist ungefähr so ignorant, wie sich über Alice Schwarzer zu amüsieren. Trägt man Reich-Ranicki seine verallgemeinernde Kritik am deutschen Fernsehprogramm nach, sollte dies nur mit gleichzeitiger Nennung seiner einzigartigen Rolle in der Literaturvermittlung einhergehen. Ranickis Polemik rüttelte das eingelullte Galapublikum wach, das soeben die Sendung „Deutschland sucht den Superstar“ beklatscht hatte. Er hat im Kern recht, mehr auch nicht, aber immerhin. Er äußerte seine Meinung zur Kultur. Sein Leben lang.
Marcel Reich-Ranicki wird diese Tage 90 Jahre alt. Das ist ein Wunder, denn der polnischstämmige Jude überlebte das Warschauer Ghetto, konnte der Deportation nach Treblinka ins Vernichtungslager entfliehen und verlor fast seine gesamte Familie im „Dritten Reich“.
Die Bedeutung des von ihm initiierten Bachmann-Literatur-Preises ist zwar strittig, doch seine Mitarbeit in der Gruppe 47, die bahnbrechend für die deutsche Nachkriegsliteratur war, und die Etablierung von Literaturkritik im Fernsehen – in Form des Literarischen Quartetts – sind höchst bemerkenswert.
Sein Name steht für Verrisse, für die ganz harte, mitunter persönlich werdende Kritik, aber die kommt aus wahrer Liebe zur Literatur. Und sie sind amüsant zu lesen.
Reich-Ranicki wird der Vergleich nicht gefallen und er ist auch in keinem weiteren Punkt zulässig, aber in diesem einen Fall verhält es sich wie bei Charlotte Roche, die mit ihren „Feuchtgebieten“ ekelte: Es braucht wenige radikale Stimmen, die über die Stränge schlagen, um das Mindestmaß zu etablieren. Dabei fällt auf, dass man vorher annahm, die Themen Emanzipation und Fernsehkritik seien weitreichend präsent. Das täuschte. War augenscheinlich an der Zeit, hier zu appellieren.
Ranicki kann wunderbar schreiben. Alles ist verständlich, herrlich verallgemeinert und vereinfacht und so furchtbar ernst gemeint, dass es einen umhaut. Ranicki ist das, was in Deutschland als unsachlich gilt: Er ist emotional, wenn er kritisiert. Er hatte den Mut, Grass und Walser anzugreifen. Er ist der sogenannte Literaturpapst und jedem steht es frei, besser Literatur zu kritisieren. Wir warten immer noch auf Nachfolger, die mutig und kompetent genug sind, sich dieser Aufgabe zu stellen. Auf zur emotionalen und kenntnisreichen Literaturkritik… Der Weg ist geebnet, seiner Dampfwalze gratulieren wir aus ganzem Herzen zum Geburtstag.
Photo: pepedesignslifestyle (flickr.com)
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Ich gratuliere auch. Von ganzem Herzen. Dem Herrn Ranicki zum Geburtstag und Lina zum gelungenen Artikel.
Wobei ich mir allerdings trotz meiner Begeisterung für den Literaturpapst das Recht zum schmunzelnden Amüsieren über Alice Schwarzer nicht nehmen lassen will.
Da muss es doch einen Weg geben…