„Feministisch, frei und visionär.“ Mit ihrer Graphic Novel Unerschrocken räumt Pénélope Bagieu 15 mutigen Frauen mit Pioniergeist den Platz in der Geschichte ein, den ihnen die gängige Geschichtsschreibung bislang kaum gewährte. Dabei gelingt es der französischen Illustratorin und Cartoonistin, vielschichtige Portraits zu schaffen, die zwar neuwertige Überlieferungen, aber keinesfalls aalglatt zurechtgeliftete Biografien sind.
Geboren zwischen 350 v.Chr. und 1975
Es sind 15 Frauen aus verschiedenen Jahrtausenden, von unterschiedlichen Kontinenten und aus diversen kulturellen Kontexten. Sie sind adlig, berühmt, mutig, engagiert, politisch, kreativ und selbstbewusst. Doch sie sind vor allem eins: Von der Geschichtsschreibung bislang zu Unrecht verkannt und ignoriert. Ein Glück, dass ihnen Pénélope Bagieu auf 144 wunderbaren Seiten, die 2017 im Reprodukt Verlag erschienen, die Aufmerksamkeit schenkt, die ihnen zusteht. Jedes der 15 Portraits erzählt dabei in Panels charmant-witzig und doch sachlich die Lebensgeschichte der jeweiligen Protagonistin und wird durch eine großformatige Illustration abgerundet.
Tradierte Geschichte neu erzählt
Die vielleicht bekannteste Protagonistin ist Josephine Baker, die häufig auf ihr Bananröckchen und ihren „wilden Tanz“ („die Urgrossmutter des Twerk“ [sic]) reduziert werde. An einer Prominenten wie ihr zeigt Bagieu eindrucksvoll, dass Baker zwar bis heute in der Popkultur für ihre Bühnendarbietungen gefeiert wird. Auf politischer Ebene wird jedoch kaum erinnert, dass die Künstlerin sich mutig für ihre Wahlheimat Frankreich einsetzte: Während der deutschen Nazi-Besatzung wird sie als französische Staatsbürgerin Spionin der Résistance und erhält nach der Befreiung alle militärischen Ehren. Als die gebürtige US-Amerikanerin merkt, dass die Rassentrennung in den USA voranschreitet, solidarisiert sie sich mit Martin Luther King und steckt fortan all ihre Bemühungen in die Bürgerrechtsbewegung.
Verheerender als die Wahrnehmungs-Aussparungen bei Baker ist jedoch die gängige Geschichtsschreibung über die chinesische Kaiserin Wu Zetian (624-705), die die letzte Unerschrockene ist, die vorgestellt wird. Trotz massiver Widerstände besteigt sie 690 den Thron und ist die einzige Frau, die bis heute den chinesischen Kaisertitel getragen hat. Sie geht gegen Korruption und Vetternwirtschaft vor, ermutigt Bürger*innen aller Schichten sich politisch zu engagieren und treibt die Emanzipation der Frauen voran: Sie erlässt Dekrete, die die Stellung der Frau in Politik, Bildung und Justiz verbessern und beaufragt Gelehrte, Biographien bedeutender Frauen zu schreiben. Die teils berechtigten Vorbehalte ihrer Feinde verschweigt Bagieu nicht, doch sie setzt sie in einen Kontext, der aufrüttelt:
Dagegen wird systematisch betont (und als unerhörter Fakt unterstrichen), dass sie „furchterregend“, „strebsam“ und „nicht zu Kompromissen bereit“ war. Charakterzüge, die so ziemlich allen Kaisern der Geschichte nachgesagt werden (und gemeinhin Anerkennung finden)…
Besonders erschütternd: Gemäß der Tradition hätten ihre Nachfolger Wu Zetians Leben auf ihrem Grabmal würdigen müssen. Bis heute ist dieses jedoch unbeschrieben.
Ein weiter Begriff von Frausein und Weiblichkeit
Mit Clémentine Delait und Christine Jorgensen zeigt die Autorin zwei unerschrockene Frauen, die symbolhaft gegen die Normierung von Weiblichkeit und gegen die Praxis der Heteronormativität stehen. Clémentine Delait ist die Dame mit Bart. Durch ihre Entscheidung, ihren wachsenden Bart nicht mehr abzurasieren, wird sie zur Berühmtheit. Die Bardame wird zum Maskottchen der französischen Soldaten im ersten Weltkrieg und wird von Adelshäusern in ganz Europa empfangen. Damit ist Clémentine ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass für gesellschaftliche Akzeptanz ein atypisches Merkmal keinesfalls kaschiert werden muss. Anders ergeht es Christine Jorgensen (geboren 1926), deren Kapitel Transsexuelle Berühmtheit heißt. Christine, die in einem biologisch männlichen Körper geboren wird, entschließt sich im Alter von 23 Jahren, eine experimentelle Hormontherapie in Dänemark durchzuführen und ihr biologisches Geschlecht operativ ändern zu lassen. Damit war sie die erste Person, die wegen einer operativen Geschlechtsumwandlung mediale Aufmerksamkeit erhielt. Die Cartoonistin Bagieu beschreibt einfühlsam Christines persönliches Glück und ihren medialen Erfolg nach dem Eingriff, aber auch die vielen Barrieren auf ihrem Lebensweg. So verkauft sich Christines Biographie mehr als 500.000 Mal und wird verfilmt. Doch die Journalist*innen stellen ihr unangebrachte Fragen und im Film wird sie entgegen ihres Wunsches von einem Mann gespielt. Außerdem darf sie ihren Lebensgefährten nicht heiraten, weil ihre Geburtsurkunde auf George Jr. ausgestellt ist.
Übersetzung, Handwerk, Herstellung – eine lohnenswerte Geschichte wird zum haptischen Gesamtkunstwerk für Bibliophile
Die inhaltlich spannenden Portraits erwachen durch Pénélope Bagieus Illustrationen zum Leben. Doch nicht außer Acht zu lassen sind die textuellen Elemente, die in der Übersetzung von Claudia Sandberg und Heike Drescher zum Schmunzeln und Grübeln anregen. Gemeinsam mit den Illustrationen ziehen sie die Leser*in in den Kosmos der unerschrocken Frauen und geben wertvolle Denkanstöße. Besonders schön ist die Textverarbeitung in Form des Handletterings von Olav Korth. Diese hochwertige Aufbereitung setzt sich auch im Druck fort. Als Großformat (19 x 26 cm) mit geprägtem Hardcover und herrlich farbigen Seiten, lädt Unerschrocken zum Verweilen ein und ist inhaltlich, gestalterisch und haptisch ein großes Vergnügen. – „Feministisch, frei, visionär.“
* Pénélope Bagieu wurde 1982 in Frankreich geboren und durch ihren Comicblog Ma vie est tout à fait fascinante berühmt. Ihre Werke Eine erlesene Leiche, Wie ein leeres Blatt und California Dreamin‘ erschienen im Carlsen Verlag. Der Reprodukt Verlag, der Unerschrocken verlegte, bereitet derzeit den zweiten Band mit außergewöhnlichen Frauen aus der Feder Bagieus vor.
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