Am Sonntag geht der open mike in die zweite Runde. Um elf Uhr beginnen die Lesungen, Literaturbegeisterte versammeln sich nach durchtanzter Nacht, ausgiebigem Schlaf oder auch üppigem Frühstück wieder im Heimathafen Neukölln, um den jungen Stimmen der deutschsprachigen Literaturlandschaft zu lauschen.
Den ersten Block beginnt an diesem Tag Rainer Holl mit seinem Prolog. Der 33-Jährige mischt schon seit einigen Jahren bei Poetry Slams und Lesebühnen mit. Eine gewisse Geübtheit im Präsentieren seiner Werke vor Publikum merkt man auch diesem Text sofort an. Holl nimmt uns mit in das Wohnzimmer von Herrn Meier, in dem neben Schrankwand, Röhrenfernseher und einer Fotografie von Jean Guichard nicht viel Spannendes zu finden ist. Herr Meier bereitet sich auf einen Fernsehabend mit Schlemmerfilet vor. Denkt man. Zunächst. Durch das stetige Wiederholen, dass just an diesem Abend alles „wirklich schön“ sein müsse, wird den Zuhörer*innen jedoch langsam bewusst, dass es bei dem Schlemmerfilet nicht bleiben wird. Denn Herr Meier hat die Gastherme aufgedreht und blickt ein letztes Mal – und wir durch seine Augen – auf sein Wohnzimmer und sein Leben zurück.
Nach diesem Prosatext läutet Lauritz Müller den Lyrik-Block ein. Er liest aus seinen Gedichtsammlungen renaturierte spielbretter und die natur im verdacht. Den etwas weit hergeholten Metaphern und der hermetischen Sprache zum Trotz schafft er es, eigene Akzente zu setzen. Wahrscheinlich gerade wegen seiner Wortwahl, die zwar nicht extrem ausgesucht ist, aber dafür immer einzigartig.
In seinem Essay Warum hassen wir die Lyrik? stellt Ben Lerner die These auf, dass jedes Kind poetisieren könne. Nur beim Aufwachsen sei es so, dass man diese Fähigkeit verliere. Der Poet erinnere sein Publikum an den Verlust. Deswegen werden er und seine Kunst gehasst: Er ist in der Lage, die Begabung des Poetisierens beizubehalten, sein Publikum war es nicht. Nicht alle aber hassen Poesie – und versucht man einmal, unberührt von den Gewohnheiten des Alltags und den Bedeutungsschichten, die Worte mit der Zeit ansammeln, sich auf die Poesie einzulassen, hat man vielleicht das Glück und landet bei den Gedichten von Ronya Othmann: „aber das / kratzen der schaufeln, das knarzen in den / schritten wie schotter, der bricht.“ Man hört das Geräusch des Eisens, das auf den Zement stößt, das Knistern vorsichtiger Sohlen, die auf kieselgrauen Schnee treten. Othmanns Art zu schreiben wirkt oft assoziativ: „nimm deine fingerkuppen, / deine rippen, deine eierstöcke. meine / liebe, ein abfälliges gewitter. es regnet / sich aus.“ Manchmal wird Othmanns Poesie dagegen auch sehr konkret: „ich kippe den wein in die geranien“. So oder so: Hervorragend!
An Othmann schließt sich Tobias Pagel an. Er liest aus seiner Gedichtsammlung grenzgebiete II. 1981 in Sigmaringen geboren, lebt er in Konstanz und ist dort als Lehrer tätig. Er ist Absolvent des Studios für Literatur und Theater in Tübingen und unterrichtet eine Lyrik-Textwerkstatt. Pagels Fokus liegt auf Gedichten und Liedern, er fotografiert aber auch. 2016 war er Finalist des Leonce-und-Lena-Preises in Darmstadt.
Lauscht man Pagels Gedichten, fühlt man sich mitgenommen auf eine fantasievolle Reise in eine nebelige Landschaft. Pagel erzählt von Wäldern, Trassen und schwarzen Löchern, von Umwelt und Elektrogeräten und „Streifzügen durch Gaga-Land“. Seine Lyrik ist eine angenehme Komposition aus Alltäglichem und Abstraktem, manchmal bodenständig und dann wieder voller sprudelnder Bilder. Die Lesung klingt ein bisschen wie Musik, das Auf und Ab von Pagels Stimme ein wenig wie Meeresrauschen, und man kann sich die grauen Herbst- und weißen Wintertage bildhaft vorstellen. Gleichzeitig schreckt Pagel aber nicht davor zurück, verspielt und experimentierfreudig vorzugehen: So füllt er beispielsweise ein Gedicht mit zahllosen Referenzen an Pop-Songs. Seine Texte, die insgesamt eine eher melancholische Stimmung vermitteln und das Geheimnisvolle und Unheimliche der Natur unterstreichen, entlassen das Publikum mit ihrem Ende in die Pause.
In quirligem Stimmengewirr drängen sich die Gäste zwischen Bücherstand und Buffet hin und her. Pausenthema Nummer eins in den Gesprächen sind die Eindrücke der Lesungen. Es schwirren einige Journalist*innen und Blogger*innen durch die Menge, jeder will einen O-Ton der Wettbewerbsbesucher erhaschen.
Dann werden die letzten Zigaretten ausgedrückt, die Pause ist vorbei. Die Zuhörer*innen strömen wieder in den atmosphärischen Saal und der zweite Block am Sonntag beginnt mit Ralph Tharayils Text Liebchen.
Brot mit Butter und Salz – so sagt es zumindest sein Lektor – ist das Lieblingsessen von Tharayil. „Meine Damen und Herren, junge Menschen, seien sie wachsam und gespannt“, so beendet Tom Müller schließlich die Vorstellung. Das mit den jungen Menschen soll sich an diesem Tag noch zum running gag entwickeln, die Menge kichert.
Dann beginnt Tharayil zu lesen. Zunächst leise und im leichten Schweizer Dialekt. Er wirkt nervös und das Zittern seiner Hände ist unübersehbar. Entschieden fährt er schließlich fort, sein Text reißt das Publikum in seinen Bann: komplette Stille. Tharayils Stimme wirkt jetzt gar nicht mehr schüchtern, überzeugend steht er hinter jedem Wort seiner verstrickten, kaum idyllischen Familiengeschichte. Die Charaktere werden klar umrissen und ihre Umgebung durch atmosphärische Beschreibungen aufgeladen. Die Farbe Blau zieht sich durch die Geschichte, betont die kulturellen Kontraste zwischen der Schweiz und Indien. Zwischen diesen beiden Orten und Kulturen lebt die Familie des „Liebchens“. Das Blau des Himmels verwandelt sich im Verlauf der Geschichte zunehmend in eine dunkle, erdrückende Gewitterwolke, die die Familie in einen Albtraum stürzt.
Der düstere Bann, den Tharayil über den Saal legt, wird erst aufgelöst, als Magdalena Sporkmann heiter beginnt, ihren Text vorzutragen. Doch es ist kein Prosatext im herkömmlichen Sinne, vielmehr ein verschriftlichtes Telefonat. Da ist jemand, der mit einem unbekannten Gesprächspartner über das letzte Date plaudert. Dieser Jemand scheint reichlich Dates zu haben (so heißt auch der Text Date IV). Den Zuhörer*innen im Saal werden mechanisch die Gesprächsanteile der Protagonistin präsentiert. Und das auf fast schon unpassend lustige Weise. Das Publikum lächelt ununterbrochen – oder ist es eher ein Be-lächeln? Die vollkommene Abwesenheit literarischer Elemente lässt die Lesung fast wie ein kurzweiliges Vergnügen wirken, welches das Publikum bis zum nächsten Kandidaten unterhalten soll. Spitze Zungen fragen sich, wie es dieser Text überhaupt bis auf diese Bühne geschafft hat. Aber brauchen wir nicht auch etwas Unterhaltung?
Schließlich betritt Matthias Emanuel Tonon die Bühne. Mit einer versöhnlichen Stimme im tiefen Bass erzählt er uns eine Geschichte, besser gesagt ein paar Ausschnitte über Abschied und Liebe zwischen zwei Männern: Sam und dem Ich-Erzähler Ben. Sein Text wirft Fragen auf: Wie würde man sich nach der Trennung den Partner ins Gedächtnis zurückrufen? Mit Tränen oder schweigend? In Bens Erinnerung ist sein Partner Sam ein kindlich naiver Kettenraucher, der ihn immer begleitet hat, auch als Ben an Krebs erkrankte. Obwohl Sam schon vier Jahre aus Bens Leben verschwunden ist, blitzen alle Erlebnisse in Bens Gedächtnis immer wieder auf. Seine Erinnerungen sind bittersüß. Die melancholische Geschichte endet, als Sam sich am Bahnhof mit den Worten „In genau einem Monat bin ich wieder da“ von Ben verabschiedet. Tonons Text hat keine auffällige Handlung, sondern erzählt auf einer sehr persönlichen Ebene von den Erfahrungen der ersten Liebe.
Der letzte Text des 25. open mike wird schließlich von Mariusz Hoffmann vorgetragen. Die Dorfköter seines Textes sind der Ich-Erzähler und sein Freund Andrzej. Augenblicklich formen sich Bilder vor dem inneren Auge, während Mariusz Hoffmann mit angenehm samtiger Stimme liest: Bilder von dem polnischen Dorf Zalesie, von den „Rostlauben“, die es auf der Durchreise passieren und von dem Ahornbaum, unter dem der Viertklässler an diesem Sommertag ein letztes Mal mit seinem Freund Andrzej sitzt, bevor er mit seinen Eltern nach Deutschland ziehen wird. Kurz scheint Tschick von Wolfgang Herrndorf und die vielen damit verbundenen Assoziationen als Referenz auf. Aber dieser lebendige und sprachlich ausgesprochen gelungene Text, der die Zuhörer*innen teilhaben lässt am ausschweifend zelebrierten Abschied zweier Freunde, ist es sicher wert, für sich allein verstanden zu werden.
Und so endet nach acht Lesungen an diesem Sonntag die Präsentation der Kandidat*innen – und es ist am Publikum, auf die Entscheidung der Jury zu warten.
Von Mengge Chen, Anna Julie Lange, Sofie Mörchen, Paola Moretti, Merle Ostendorp, Lena Prisner und Moana Skambraks
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