Sechs Jugendliche schreiben im Rahmen des Poetry Project gemeinsam mit ihren Poesie-Mentoren Gedichte über die Flucht, das Ankommen und das Erwachsenwerden. Entstanden sind einzigartige, persönliche und erschütternde Einblicke.
„Über Gedichte können wir etwas ausdrücken, wofür wir sonst keine Worte finden würden.“, sagt Shazamir Hatake. Er ist einer von sechs jugendlichen Geflüchteten im Poetry Project. Gemeinsam mit ihren Mentoren schreiben sie in Berlin seit dem Winter 2015 Gedichte über ihre Erfahrungen. Bei Veranstaltungen lesen sie ihre Gedichte selbst im Original, dann wird die deutsche Übersetzung vorgetragen, hier von dem Schauspieler Matthias Scherwenikas. Auch wenn wohl niemand im Publikum das Original versteht, kann man eine Stecknadel fallen hören. Klang und Rhythmus sowie die Ausstrahlung der jungen Dichter fesseln gleichermaßen wie die Themen, die man erst versteht, wenn man das Gedicht zum zweiten Mal hört, diesmal auf Deutsch. Dann wird klar, mit welch umwerfender Ehrlichkeit die Jugendlichen von Gefühlen, Ängsten und Erlebtem berichten. Die Gedichte sind kurz und auf den Punkt gebracht, sie gehen unter die Haut und hallen nach.
Als im Winter 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, darunter alleinreisende Jugendliche, überlegten Susanne Koelb, Aarash Spanta und einige Freunde, wie man sich engagieren könnte. Sie gingen in die Unterkünfte und fragten, ob die Jugendlichen sich vorstellen könnten, in Form von Lyrik von ihren Erlebnissen zu berichten. Susanne Koelbl kannte Afghanistan und den Iran, da sie viel über die Region berichtet hat. Dort hat sie erlebt, dass Lyrik als Ausdrucksform in der persischen Kultur in alltäglicher und familiärer Umgebung eine selbstverständliche Rolle spielt. Auch der Anwalt Aarash Spanta, Mitbegründer des Poetry Project und Übersetzer, bestätigt dies: „Jeder Taxifahrer im persischsprachigen Raum kennt mindestens zehn Verse. Man kommt eher mit dieser Dichtung in Kontakt als mit der Koranschule. Jeder hat das in sich drin, in Versform.“ Tatsächlich kennen viele der dichtenden Jugendlichen Lyrik von Familienangehörigen oder hatten Lyrikunterricht in der Schule. Dort lernten sie auch, selber Gedichte zu schreiben. Mehdi Hashemi sagt, ihm hat die Arbeit im Poetry Project in der schwierigen Zeit des Ankommens geholfen.
Publikum zu Tränen gerührt
Auch den Zuschauern, die die dichtenden Jugendlichen erleben dürfen, hilft diese Erfahrung. „Die Reaktionen waren durchweg sehr positiv. Wir haben den Nerv der Zeit getroffen und viele Menschen zu Tränen gerührt.“, erzählt Aarash Spanta. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie Literatur Brücken schlagen und eine bewegende Kraft entwickeln kann!
Die Themen, die von den Poesie-Mentoren vorgegeben wurden, waren Flucht, Ankommen, Angst, Sehnsucht, Fremdheit, der Vergleich zwischen Westen und Osten, Freiheit, individuelle Freiheit, das Verhältnis zum anderen Geschlecht, Sexualität. Die Gedichtform entwickeln die Dichter selbst, mit ihren Mentoren arbeiten sie am Feinschliff. Die Themen, über die sie schreiben, sind sehr intim und es ist befremdlich für die Jugendlichen, ihre Gedanken und Gefühle so öffentlich zu machen, erzählt Mehdi Hashemi. „Das sind Sachen, die man in der ehemaligen Heimat niemandem erzählt. Und jetzt steht man hier und erzählt völlig fremden Leuten in einer großen Versammlung davon. Das war für uns alle schwierig.“, sagt er. Es gefällt ihm auch, seine Gedichte auf Deutsch zu hören. Einen großen Unterschied sieht er nicht: „Es ist das Gleiche, nur in einer anderen Sprache.“
Die Schreibwerkstatt des Poetry Project findet nach wie vor statt. „Wir machen weiter und passen das Programm an. Es gibt auch eine Entwicklung, die Themen ändern sich. Eine Abschiebung ins Kriegsgebiet droht inzwischen keinem mehr und damit ändert sich die Haltung.“, sagt Aarash Spanta. Inzwischen gehört zum Beispiel auch ein Brief an einen AfD-Wähler zum Repertoire der Poeten (s.o.). Der Blick ist nicht mehr nur in die Vergangenheit gerichtet. Mehdi Hashemi kann noch immer nicht glauben, dass das Projekt so groß geworden ist. Mit Nachdruck sagt er: „Ich bleibe dabei und werde weiterschreiben.“
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Der schöne Bericht über die Lyrik-Lesung macht Mut in dieser Welt bedrückender Ereignisse. Wie viele Hoffnungen macht es, die persönlichen und sprachlichen Entwicklungen zu erleben -- sei es bei jungen Männern oder älteren Frauen! Und wie wichtig für uns alle, ihnen die Türen in die Zukunft offen zu halten! Ich habe den Artikel durch einen Hinweis bei Pro Asyl auf Aarash D. Spanta gefunden. Dank an alle und hier an Charlotte Steinbock! Cornelia aus Darmstadt am 16. Mai 2018