Als an einem verkaterten Herbstmorgen im Jahr 2014 auf meinem Handy eine mir unbekannte Berliner Nummer aufleuchtete, dachte ich schon: „Das kann nichts Gutes heißen.“ – und war definitiv nicht darauf vorbereitet: „Hallo, hast du noch Interesse an einer Hospitanz am Theater?“
Fast ein halbes Jahr vorher hatte ich an alle Berliner Staatstheater Initiativbewerbungen um eine Dramaturgiehospitanz geschickt – und von keinem auch nur eine Eingangsbestätigung erhalten. Auch nicht von dem Theater, das mir einen Praktikumsplatz sogar anbot, nachdem ich dort in der letzten Runde des FSJ-Auswahlverfahrens abgelehnt wurde. Hatte ich nun noch Interesse? Eigentlich hatte ich doch schon nach der letzten Hospitanz am Saarländischen Staatstheater beschlossen: Ich bin jetzt zu alt und zu qualifiziert für unbezahlte Praktika. Doch da war es schon um mich geschehen: Sollte sie doch noch wahr werden, die Karriere am Theater? Dann war das jetzt meine Chance!
Das Theater, das mich zum Vorstellungsgespräch einlud, ist zwar nicht das größte unter den Berliner Staatstheatern, war aus meiner Sicht aber ein Volltreffer: Unter der aktuellen Intendanz war aus dem zuvor profillosen Haus ein Theater für alle geworden. Nicht ein Theater für eine akademische Elite, die sich gern in ihrer Freizeit intellektuell fühlt, sondern ein Theater, in das ich auch gerne Freund*innen mitnehme, die sonst nicht so viel mit Kultur am Hut haben. Die Stücke kann jeder verstehen und dennoch sind sie nicht banal. Sie bringen den Zuschauer*innen Themen aus dem Spektrum Migration, Vorurteile, Queerness und Geschichte wirklich nahe – unsere Themen. Ein richtig linker Laden war es geworden – im positivsten Sinne! –, der in allen Stücken Ungerechtigkeiten aus Gesellschaften der Gegenwart aufzeigte und kritisierte.
Der kurze Text meines Vertrages bestand nur aus Klauseln, die besagten, worauf ich keinen Anspruch hatte. Ich war zum Beispiel außerhalb des Theatergeländes nicht versichert, musste aber ständig in der Stadt Besorgungen machen.
So ging es auch bei der Stückentwicklung, die ich begleitete, um ein gescheitertes Rechtssystem. Die Hauptfigur musste die Ungerechtigkeit einer Gesellschaft ertragen, in der eben nicht wie versprochen vor dem Gesetz alle gleich sind, sondern reichere und mächtigere, höhergestellte Menschen mehr Recht hatten. Auf der Bühne wurde ein Stück gegen Hierarchien gespielt, hinter der Bühne entfaltete sich mir aber ein ganz anderes Theater.
Die Hierarchie der Theaterproduktion hat an ihrer Pyramidenspitze gekrönten Hauptes die Regisseurin, gefolgt von der ihr ewig hinterherräumenden und nie gerühmten Dramaturgin. Danach stehen die künstlerischen Leiter*innen von Bühnenbild, Kostümen, Musik, Video etc., die an ihre Assistent*innen delegieren, die wiederum mit den Hospitant*innen kommunizieren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Regisseurin zu keinem Zeitpunkt meinen Namen kannte. Ob sie mich jemals direkt angesprochen hat, weiß ich nicht mehr.
Zuvor hatte ich immer in diesen Wohlfühl-Büros gearbeitet, in denen die Chef*innen so taten, als wären sie keine. Jetzt befand ich mich also am Boden einer Pyramide in selbstgewählter Sklaverei, war morgens als Erster da und ging abends als Letzter heim. Geld bekam ich keines, musste aber oft welches vorstrecken für das „Catering“ bei der Probe oder für Buchbeschaffungen. Bis heute frage ich mich, ob ich nicht eigentlich im Minus aus dem Praktikum herausgegangen bin.
Es war der Abend meines Geburtstags, als die Bühnenbildassistentin und ich – alle anderen waren schon zuhause – uns beim Aufräumen um 23 Uhr im Halbdunkel der Probebühne in unserer Inszenierung wiederfanden. Ich glaube, da beschloss ich, mir ein paar Tage frei zu nehmen. Vielleicht war es auch an dem Morgen, an dem alle schon im Premierenstress zur Probe bereitstanden, aber die Regisseurin verschlafen hatte und mit ein paar Stunden Verspätung, nachdem der Regieassistent es irgendwie geschafft hatte, sie zu wecken, erst mal einen Cappuccino brauchte. Jedenfalls flog ich nach Russland – an einem Tag, an dem man mich scheinbar unbedingt gebraucht hätte. Ich denke, das war der Fauxpas, weswegen ich niemals ein „Danke“ von der Dramaturgin hörte. Vielleicht war sie aber auch einfach zu sehr im Stress. Immerhin schaffte es ein Zeugnis nach dreimal Nachfragen und sechs Monaten zu mir.
Ich konnte einfach nicht mehr 100 Prozent für ein Theater geben, das durch seine Produktionen die Abschaffung eines Systems fordert, welches es hinter der Bühne selbst befeuert.
Durch meinen unilateral durchgesetzten Urlaub habe ich mich sicher nicht mit Ruhm bekleckert, bin Menschen in den Rücken gefallen, die immer nett zu mir waren und mir nie etwas anderes versprochen hatten, als das was ich bekam. Doch ich konnte einfach nicht mehr 100 Prozent für ein Theater geben, das durch seine Produktionen die Abschaffung eines Systems fordert, welches es hinter der Bühne selbst befeuert.
Wenn die Theater dieses Landes nicht nur Stücke über Gerechtigkeit zeigen, sondern auch tatsächlich zu Gerechtigkeit in der Gesellschaft beitragen wollen, dann müssen sie dem kapitalistischen Konkurrenzdruck entgegenhalten.
Es geht aber einfach nicht, dass man Hospitant*innen bezahlt, lernte ich später in meinem Studium in einem Seminar, das von einem Dramaturgen eines anderen Berliner Theaters geleitet wurde. Dafür sei schlicht und ergreifend kein Geld da. Er würde es aber immer so handhaben, dass Hospitant*innen das Praktikum so organisieren können, dass nebenher noch Zeit zum Jobben bliebe. Das ging in meinem Fall nicht, da die Regisseurin ein sehr intimes Team wünschte und ich daher der einzige Hospitant von Dramaturgie und Regie sein sollte. Aber Moment mal: Würde das überhaupt irgendwas besser machen? Ist es weniger Ausbeutung, wenn man etwas früher Schluss machen darf, damit man am Abend noch in einer Bar Gläser spülen kann, um nicht zu verhungern? Nein. Wenn die Theater dieses Landes nicht nur Stücke über Gerechtigkeit zeigen, sondern auch tatsächlich zu Gerechtigkeit in der Gesellschaft beitragen wollen, dann müssen sie dem kapitalistischen Konkurrenzdruck entgegenhalten. Wer seine Praktikant*innen bezahlen will, schafft eben keine elf Premieren im Jahr. Und kann dazu auch öffentlich stolz stehen, finde ich.
Einmal half ich als unbezahlter Praktikant, eine Gesprächsrunde zum Mindestlohn vorzubereiten. Haltung des Theaters zum Thema: Mindestlohn ist schlecht, weil zu niedrig.
Beschwer dich nicht, du bist doch selbst schuld, sagte mein Freund irgendwann zu mir und hatte Recht. Er als BWL-Student würde niemals ein unbezahltes Praktikum machen, im Kulturbetrieb sehen wir das aber als ganz normal an. Doch nur weil es dieses stille Übereinkommen gibt, kann der Kulturbetrieb überhaupt so funktionieren. Ich hatte übrigens zu keiner Sekunde die Intention zu behaupten, ich hätte in meinem Team am Theater am meisten gearbeitet. Schier unglaublich finde ich, was zum Beispiel der Regieassistent leistet – und das nicht nur sechs Monate wie ich, sondern seit Jahren. Und ja, er wird bezahlt – und zwar mit dem laut dem Theater unfairen Mindestlohn.
Wenn Kulturschaffende gezwungen werden über Geld zu reden, höre ich häufig diesen Satz: „Na ja, reich wird man nicht.“ Für mich schwingt da immer noch mehr mit, etwa: „Frag doch nicht nach Geld! Du musst Herzblut haben!“ Herzblut ist sowohl biologisch als auch metaphorisch eine Sache, die man haben sollte, ja, aber mir reicht das nicht. Wagen wir doch kurz ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn in der Kulturbranche keine*r mehr unbezahlte Praktika machen würde? Was wäre wenn die Dramaturg*innen der Theater nur für ein Gehalt arbeiten würden, das das auf dem Zahnfleisch Gehen vor jeder Premiere, die schlaflosen Nächte, die wenigen sozialen Kontakte außerhalb der Theaterwelt etwas ausgliche? Oder was wäre, wenn die Produktionen so eingedampft würden, dass man sie mit fairen Arbeitsbedingungen, einer 40-Stunden-Woche auf die Beine stellen könnte? Gäbe es dann keine Kultur mehr? Oder würden dann Prioritäten neu gesetzt? Das ist längst keine institutionelle Frage mehr, sondern war immer schon eine kulturpolitische. Ich jedenfalls trage nicht mehr zu einem System bei, das wir eigentlich abschaffen wollen. Und schreibe diesen Text: Als Traumabewältigung und Aufruf.
Ich liebe das Theater! Und ich liebe auch das Theater meines Praktikums wieder, seit mein Platz zurück in den gepolsterten Zuschauer*innensitzen ist und ich mir tolle Stücke ansehen kann, die davon erzählen, wie die Realität sein sollte. Nur manchmal, zumeist beim Applaus am Ende, wenn die Saalbeleuchtung mich aus der Fiktion reißt, stößt mir ein bitterer Geschmack auf beim Gedanken an die talentierten Leute, die für so wenig so viel leisten.
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Lieber Jonas,
Danke für Deinen Artikel. Ich fand die Einblicke interessant und ehrlich.
Als Ergänzung: die Sache mit den unbezahlten Praktika ist nun ja auch keine Sache, die nur die Kulturschaffenden betrifft.
BWLer (vielleicht) mal ausgeschlossen, kenne ich fast niemanden in meinem Freundeskreis, der nicht mindestens 1-2 Jahre während oder nach seines Studiums mit unbezahlten Praktika verbringt oder verbracht hat. Was die Sache natürlich nicht besser macht oder rechtfertigt! Und dass die Gehälter im Kulturbetrieb auch NACH der Beendigung von Praktikumsphasen ebenfalls unverschämt niedrig sind, ist natürlich mindestens genauso problematisch.
Dennoch: was würde passieren, wenn Medizinstudierende aufhören würden, ihr letztes Studiumsjahr in einem unbezahlten Vollzeitjob namens Praktisches Jahr im Krankenhaus zu verbringen? Oder wenn sämtliche PsychologInnen nach ihrem sechsjährigen Studium in die Wirtschaft gingen, anstatt sich 1,5 Jahre unbezahlte Arbeit in der Psychiatrie anzutun ( nebenbei müssen sie übrigens auch noch schlappe 500-1000 Euro Kosten für die Psychotherapieausbildung monatlich aufbringen. Wär ja gelacht!)?
In vielen Bereichen würde „das System“, jene ökonomisch eng gestrickten Pläne von Unternehmen, Zeitungen, Verlagen, Kulturbetrieben und Krankenhäusern, ohne die unbezahlten PraktikantInnen zusammenbrechen.
Was da hilft? Nicht mehr mitmachen? Auf jeden Fall eine Möglichkeit. Wählen gehen? Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Liebe Lena,
du hast natürlich recht, wenn man global denkt, betrifft das hier geschilderte Problem noch viele weitere Bereiche. Ich habe mir den Kulturbetrieb nur exemplarisch ausgesucht, weil ich – oder wir hier – aus eben diesem stammen oder auf diesen hinarbeiten. Dein Beispiel aus der Medizin und Psychologie ist eigentlich noch krasser. Es kann doch nicht sein, dass vom Studiengang vorgeschrieben wird, dass du ein Jahr lang Vollzeit arbeitest und so keine Chance hast dich anderweitig zu finanzieren, für dieses vorgeschriebene Jahr aber kein Geld kriegst? Selbstverständlich ist die Antwort darauf nicht, dass man auf das Praktische Jahr verzichten kann; die Antwort kann aber auch nicht sein, dass es eben so weiterlaufen muss, wie bisher. Stattdessen müsste das Praktische Jahr entsprechend entlohnt werden. Schließlich lernen die Mediziner*innen dort nicht nur, sondern leisten auch etwas! Ganz richtig ist es, da auf die Politik zu schielen. Wenn es ein fester Bestandteil eines Studiengangs / der Bildung ist, Praktika zu absolvieren, müssen diese auch finanziert werden.
Danke für deinen anregenden Kommentar!
Liebe Grüße
Jonas
Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht wie Jonas und mich durch zwei Praktika an drei sehr bekannten und großen Häusern gequält.
An einem Haus war die Regisseurin offenkundig geisteskrank, schrie das gesamte Team an und wurde gegenüber den sogar Bühnenarbeitern handgreiflich. Der Regieassistent musste den Notarzt rufen, nachdem die Regisseurin einen Nervenzusammenbruch erlitt. Von der Intendanz wurden diese Vorfälle verschwiegen, die betroffenen Personen einige Monate später entlassen, bzw. die Verträge nicht verlängert. Die Stimmung hinter den Kulissen war die Hölle. Der Verantwortliche sitzt heute befördert in einem der renomiertesten Theater in leitender Funktion.
Im Nachhinein ärgere ich mich weniger darüber, dass mir verprochener Lohn nicht ausgezahlt wurde oder über das gnadenlose Geklüngel und die Ränkespiele hinter der Bühne. Ich ärgere mich darüber, dass ich das so lange habe mit mir machen lassen, dass ich so habe mit mir umgehen lassen. Wenn sich die Intendantin eines Hauses vor laufender Kamera hinstellt und von Gerechtigkeit redet aber ihre Mitarbeiter zusammenschreit, dann ist das etwas, mit dem ich mich wenig identifizieren kann. Wenn sie von Gerechtigkeit schwätzt aber von ihren Mitarbeitern vollkommene Ausbeutung bei Überstunden und mikriger Bezahlung verlangt, während sie selbst mit zwei Referenten durch die Gegend rennt und im schwarzen Mercedes vorfährt auch.
Aber ehrlich gesagt hält sich mein Mitleid -- auch mir selbst gegenüber -- mittlerweile in Grenzen: Ich habe beobachtet, dass vom Einkleider bis zum Hospitanten alle dieses Spiel mitspielen, in der Hoffnung, selbst im Rang irgendwann aufzusteigen. Etwas abzubekommen vom Versprechen, dass wichtiger sein soll als Bezahlung: Dass man Talent hat, dass man dazugehört zu „denen da oben“, dass Ideale wichtiger seien als Bezahlung. Nicht alle aber viele halten sich für eine distinktive Elite, dabei zu sein heißt, dem Druck des Normativen zu entgehen denn selbstinszenierung ist hier alles. Das entspricht in etwa der neoliberalen Aufstiegslüge und das Theater ist hierfür ein perfekter Austragungsort.
Ich habe irgendwann jedenfalls entschieden, dass es mir wichtiger ist, meine eigenen Ideen umzusetzen als für andere den Laufburschen zu spielen und mich an einer Kunsthochschule beworben. Aus Fehlern lernt