Anke Stelling stand im vergangenen Jahr mit ihrem Roman Bodentiefe Fenster (Verbrecher Verlag) auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Mit Litaffin spricht sie über Richtig-Mach-Mütter, #regrettingmotherhood und die Verbindungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
Was hat Sie dazu bewegt, Bodentiefe Fenster zu schreiben?
Ich habe mir die Frage gestellt, warum um mich herum alle Frauen, mich selbst eingeschlossen, so komisch werden, wenn sie Kinder bekommen. Dieser Frage wollte ich nachgehen – schreibend und erzählend.
Im vergangenen Jahr ist die Debatte #regretting motherhood aufgekommen. Wie hat Sie dieser Diskurs in der Arbeit zu Bodentiefe Fenster beeinflusst?
Da die Arbeit am Buch schon länger zurückliegt, war der Diskurs für das Schreiben nicht relevant. Vielleicht hat diese Debatte aber den Verkauf des Buches angekurbelt? Ich hatte Glück, mit meinem Roman den Zeitgeist zu treffen. Aber im Schreiben hat mich dieses Thema nicht beeinflusst, das war wirklich biographisch motiviert. Ich kann mir schwer vorstellen, ein Buch zu einer bestimmten Debatte zu schreiben.
In den Kritiken zu Bodentiefe Fenster wird oft die autobiographische Parallele gesucht zwischen Autorin und der Hauptfigur Sandra. Haben Sie das erwartet?
Ich habe das erwartet. In Interviews stellt sich dann die Frage: Reden wir über das Buch oder reden wir über mich? Sandra hat eine biographische Nähe zu mir selbst. Ich habe Erfahrungen gemacht, die in das Buch eingeflossen sind und die mich überhaupt veranlasst haben, das Buch zu schreiben. Zugleich ist Sandra eine Figur, die Dinge tun oder Gedanken denken kann, die ich mich nicht traue. Dafür erleidet sie aber auch ein Schicksal, welches mir erspart bleibt. Dieses Spiel mit der Figur macht unheimlich Spaß.
Welches Verhältnis haben Sie zu Sandra?
Ich mag sie sehr und wenn die Rezensenten sie kritisieren, dann bin ich echt sauer. Wenn es heißt „Die ist doch larmoyant!“ oder „Die schmort im eigenen Saft!“, denke ich: Stimmt nicht!
Was mögen Sie an ihr?
Ihr wurde der Vorwurf gemacht, dass sie nicht ausbricht. Ich finde aber, der Vorwurf ist nicht berechtigt. Sie geht doch ganz schön weit mit ihren Gedanken. Sandra sagt, sie mag keine Leute, die ihr Leben im Griff haben und ich mag auch weder Leute noch Figuren, die ihr Leben im Griff haben. Also mag ich wiederum an Sandra, dass sie ihr Leben nicht so gut im Griff hat.
Ich brauchte ziemlich lange, bis ich bemerkte, wie schwarz-humorig Ihr Roman ist. Am Anfang dachte ich, das ist jetzt wieder so ein Buch über die Mütter aus dem Prenzlauer Berg. Aber dann hat mich der Text doch sehr überrascht.
Ich hatte auf diese Rezeption gehofft. Es macht mir selbst auch Spaß, wenn ich entlarvt werde beim Lesen, wenn ein Text anders verläuft als erwartet. Zeitweise hatte ich schon das Gefühl, auch Beifall von der falschen Seite zu bekommen, nach dem Motto: „Endlich haut mal einer auf die blöden linksliberalen Richtig-Mach-Mütter ein!“ Das war aber nicht mein Anliegen. Für mich ist Sandra keine Witzfigur, die vorgeführt werden soll, sondern eine tragische Heldin.
Inwiefern Heldin?
Eine Heldin des Alltags. Sie ist Mutter, Frau und dann hat sie noch diese besondere biographische Eigenheit. Sandra wurde zur Richtigmacherin erzogen. Der Auftrag, den sie damit hat, ist kaum zu erfüllen, das macht ihn tragisch. Es gibt Leute, die dem Text vorwerfen, er handele von Luxusproblemen. Ich glaube aber, Problem ist Problem. Man findet immer jemanden, der noch mehr leidet.
Sandra ist geprägt von ihrer Mutter der 68er-Generation, und sie versucht, diese Ideale bei ihren Kindern aufrecht zu erhalten. Sehen Sie Ihren Roman im weitesten Sinne als politische Literatur?
Ich halte das Schreiben von Gegenwartsliteratur an sich für einen politischen Akt. Auf die Wirklichkeit zugreifen, das ist wichtig für unser Weltverstehen und Zusammenleben, und insofern ist dieses Buch auch politisch.
Haben sich denn die Leute in Ihrem eigenen Umfeld im Text wiedererkannt?
Ja.
Und wie war das?
Das war schwierig und schön zugleich. Es ist immer eine Gratwanderung zwischen Persönlichkeitsrechten und der Notwendigkeit, auf die Wirklichkeit zuzugreifen. Ich musste abwägen, wie weit ich gehe, auch, wie weit ich mich selbst nackt mache mit meinem Geschriebenen. Aber ich finde Texte toll, in denen das Absperrband und der Sicherheitsabstand nicht zu spüren sind. Natürlich gab es großen Ärger in der Hausgemeinschaft.
Sonst hat man das ja mehr mit der eigenen Familie…
Mit der Familie gab es auch Ärger. Es kommen einfach viele Figuren vor in Bodentiefe Fenster.
Bereuen Sie, das Buch geschrieben zu haben?
Nein, auf keinen Fall.
Wie ergeht es denn Jüngeren mit Ihrem Text?
Das jüngste Publikum hatte ich hier in Berlin bei Hauser und Tiger. Von einzelnen jüngeren Leuten kam das Feedback, dass sie biographisch zwar noch nicht an dem Punkt seien, aber sich schon Gedanken darüber machen: Wie wollen wir leben? Wie kann man Anspruch und Anforderung zusammenkriegen? Wohin mit dem Fatalismus oder der Hoffnungslosigkeit? Da wurde dann natürlich viel anhand der Figuren diskutiert. Wenn das die Wirkung meines Romans ist, finde ich das toll.
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