Benjamin Lebert wurde 1999 mit seinem autobiografischen Debütroman „Crazy“ als Wunderkind der deutschen Literaturszene berühmt. Mittlerweile hat der heute 33jährige fünf weitere Romane veröffentlicht. Im Interview spricht er über seinen aktuellen Roman „Mitternachtsweg“, die beruflichen Herausforderungen der Digitalisierung und sein entrücktes Bild in den Medien.
Während deines Debüt-Erfolgs mit „Crazy“ hast du in Berlin gelebt. Danach bist du in deine Heimatstadt Freiburg zurückgezogen. Mittlerweile lebst du in Hamburg. Wie ist es für dich, wieder in Berlin zu sein?
Es war eine dunkle Phase in meinem Leben, als ich in Berlin gelebt habe. Mein erster Roman „Crazy“ hat enormen Anklang gefunden und zu viel stürmte auf mich ein. Ich habe mich nach einer Obhut gesehnt. Freiburg ist kein Ort, an dem man lange verweilen kann, die Stadt bietet mir keine künstlerischen Impulse. Aber da es meine Heimatstadt ist, konnte ich mich dort auszuruhen. Mit einer Decke um die Schultern habe ich lange Spaziergänge im Sternwald, einem Ort im Schwarzwald, unternommen. (lacht). Mittlerweile kann ich mich wunderbar durch Berlin bewegen. An manchen Orten bleiben Geschehnisse haften, von denen ich mich nicht lossagen kann, zum Beispiel Cafés, die ich mit einer ehemaligen Lebensgefährtin besucht habe. Aber Berlin ist nicht so, weil es einem ständigen Wandel unterliegt. Allerdings ist Hamburg gerade die ideale Stadt für mich. Hamburgs Herzschlag ist besänftigender als der Herzschlag von Berlin. Der nordische Wind erfrischt mein Herz.
Du hast keine Homepage. Was denkst du über Online- und Social Media-Auftritte von Schriftstellerinnen und Schriftstellern?
Ich bin ein Banause, was das betrifft (lacht). Der Verlag steigt mir regelmäßig aufs Dach, aber ich bin im Netz nicht beheimatet. Ich mag die Scheinheiligkeit dort nicht. Es wird eine Nähe suggeriert, die gar nicht existiert. Diese Scheinheiligkeit gibt es natürlich auch in der direkten Begegnung, auch ich bin nicht frei davon. Es ist gekünstelt, zu behaupten, wahrhaftig zu sein, wenn man direkt mit jemandem spricht. Ich glaube, niemand ist wahrhaftig. Es gibt den Satz „Nehmt den Menschen nicht die Masken ab, denn es sind ihre Gesichter.“ (lacht) Das stimmt. Vielleicht kann man online genauso wahrhaftig sein, wie im echten Leben. Ich schaffe das aber nicht.
Aber du hast eine Facebook-Seite, betreibst du die selbst?
Ja, und so sieht sie auch aus. (lacht) Wir leben in einer Schwellenzeit. Die Rolle des Schriftstellers gestaltet sich völlig neu. Ich bin gespannt, wie ich damit umgehe, da ich ein rückwärtsgewandter Mensch bin. Es gibt Studien, die belegen, dass sich das Schreiben von Schriftstellern verändert, wenn sie wissen, ob ihr Werk analog oder digital erscheint. So entstehen mehr Kalkül und Berechnung im Schreiben. Das macht mir Angst, denn Schreiben sollte sich nie in den Dienst von etwas stellen, sondern frei sein. Schreibt ihr auch oder wollt ihr Schriftsteller werden? Was wünscht ihr euch zu sein? Ihr müsst das auch nicht beantworten. (lacht)
Wir würden lieber wissen, ob du einen eBook-Reader hast.
Nein, ich bevorzuge gedruckte Bücher, auch wenn es sie nicht mehr so lange geben wird. Ich glaube aber, dass Geschichten immer zu den Menschen kommen, dir Form ist nicht wichtig. Durch das Erzählen entsteht eine Berührung, die man auch in einem eBook finden kann. Ich bin immer skeptisch, wenn etwas für tot erklärt wird. Über die Jahrhunderte hinweg ist immer alles für tot erklärt worden. Hinter dieser Kritik steht die eigene Angst vor Neuerung. Das ist bei mir auch so. Man muss es schaffen, die eigene Angst zurückzulassen.
Wie kommunizierst du mit Freunden?
Wenn mich Freunde per SMS etwas fragen, antworte ich ihnen manchmal mit einer Postkarte. Die Antworten erübrigen sich dann sehr schnell, weil die Frage überhaupt nicht mehr relevant ist. Meine Freunde machen sich auch darüber lustig. Ihr habt euch wahrscheinlich gewünscht, dass ihr einen modernen Schriftsteller trefft. Da seid ihr leider beim Falschen, es tut mir leid. (lacht)
Ich glaube, von Suppengemüse ist in meinem öffentlichen Bild bisher zu wenig die Rede gewesen.
Du wirst in den Medien manchmal als sehr entrückt und dem Weltlichen fern dargestellt.
Ich kann schon sehr weltlich sein. Gott sei Dank habe ich viele Menschen um mich, die weltliche Dinge von mir einfordern und zum Beispiel sagen: „Benjamin, hast du schon das Suppengemüse gekauft?“ Dann sage ich: „Nein, ich hab‘s vergessen, aber ich mache es gleich.“ Ich glaube, von Suppengemüse ist in meinem öffentlichen Bild bisher zu wenig die Rede gewesen. (lacht)
Wie gehst du damit um, öffentlich kategorisiert zu werden?
Was die Menschen über einen sagen, hat mehr mit den Menschen zu tun als mit einem selbst. Das finde ich tröstlich. Über mich wurde sowohl im Negativen als auch im Positiven alles Mögliche geschrieben. Es gibt eine schöne Geschichte in „Wir Kinder von Bullerbü“, in dem das kleine Mädchen sagt: „Wenn ich mit meinen Brüdern spielen will, sagen sie, ich bin zu klein. Wenn ich meiner Mutter beim Abwasch helfen soll, dann sagt sie, ich bin groß genug.“ Ich glaube, man ist nie so gut oder schlecht, wie die Menschen einen empfinden.
In einem früheren Interview hast du gesagt, dass du dich selbst nicht als Schriftsteller bezeichnen würdest, weil das jemand ist, der der Nachwelt etwas hinterlässt.
Ein richtiger Schriftsteller ist einer, der die Zeiten überstrahlt. Und das werde ich nicht tun. Ich bin ein Glühwürmchen. Das ist aber auch okay.
„Crazy“ ist Schullektüre, deine Werke werden auch akademisch behandelt. Bist du nicht stolz darauf?
Es wäre vermessen zu sagen, dass ich es nicht auf irgendeine Weise toll finde, aber die Eitelkeit nimmt bei mir nicht überhand. Ich kann sagen: Ich bin ein Mensch, der schreibt. (lacht). Man kann auf jeden Menschen, der irgendetwas tut, stolz sein. In den Tag hinauszugehen ist schwer genug, egal mit welcher Rolle.
Du hast den Briefwechsel zwischen Hemingway und Fitzgerald herausgegeben. Von Hemingway stammt das Zitat: „Das Schreiben ekelt mich an, aber da ich mir aus nichts anderem so viel mache, werde ich weitermachen.“ Könnte das auch von dir sein?
Ja, das ist wirklich so. Schreiben ist Seelenarbeit. Es ist, wie wenn man sich etwas bricht. Einmal stand ich in der Schule beim Elfmeterschießen im Tor. Ich habe den Ball sogar gehalten, aber mein Finger wurde dabei gebrochen. Zuerst spürt man eine Übelkeit und man weiß, dass man sich etwas gebrochen hat. (lacht) Die Übelkeit dem Leben gegenüber geht mit dem Schreiben einher. Denn das Schreiben ist so überbordend und so brutal und so fordernd.
Schreiben ist Seelenarbeit.
Wir haben gelesen, dass du mit einer Schreibmaschine schreibst.
Ja, das stimmt. Mit einer schwarzen Orga. Die habe ich mir als Belohnung in Portugal gekauft, nachdem ich ein Buch fertig geschrieben habe. Es ist anstrengender, man muss richtig auf die Tasten hacken. Auch der Schreibprozess verändert sich. Man lässt viel mehr Stehen als am Computer. Da schreibt man einen Satz hin und wenn er nicht gefällt, löscht man ihn. Bei der Schreibmaschine arbeitet man mit Tippex und man überlegt sich sehr genau, ob dieser Satz nicht doch vielleicht funktionieren könnte.
Machst du es dir damit bewusst schwer?
Ich muss in allen Belangen das Gefühl von Arbeit aufrechterhalten. Schreiben ist immer ein Ringen mit der eigenen Dunkelheit. Man muss dem Blick in den Spiegel standhalten. Oft findet man sich selbst nicht schön. Das Schreiben ist genauso: Man blickt sich tief in die Augen und muss das, was man sieht, aushalten und das Wahrhaftigste, was es in diesen Augen zu finden gibt, aufschreiben.
Gibt es bestimmte Orte, wo du hingehst, wenn dir alles zu viel wird?
Der Sternwald ist so ein Ort für mich. Außerdem habe ich eine fünfjährige Patentochter, die ich häufig besuche. Einmal habe ich mit ihr Pfifferlinge gesucht im Wald. Seitdem hofft sie jedes Mal, wenn ich komme, dass wir wieder Pilze suchen. Aber es gibt ja nicht immer Pilze (lacht). Jetzt habe ich überlegt, ob ich mal Pilze kaufen soll, um sie dann im Wald zu verstecken, damit wir sie dann finden können. Das hat viel mit dem Leben zutun. Leider kann man nicht immer Pilze finden, aber man kann sie selbst verstecken.
Was macht dich außer deiner Patentochter noch glücklich?
Das Glück ist so zart. Man braucht sehr gute Augen, um es zu sehen. Ich glaube, wir halten immer Ausschau nach dem großen Glück und schauen auf eine Landschaft und sagen: Wann ballt es sich denn zusammen, wann kommt es auf mich zu? So ist das Glück aber nicht beschaffen, so ist die Dunkelheit beschaffen. Es sind die kleinen Dinge, die mich berühren. Eben war ich glücklich, als ich diese Widmung hier gesehen habe: „To Dublin’s seagulls“ (zeigt auf das Buch, was er sich gerade gekauft hat:„Brilliant“ von Roddie Doyle.)
Schreiben sollte sich nie in den Dienst von etwas stellen, sondern frei sein.
Deine Eltern sind getrennt, was waren glückliche Momente in deiner Kindheit?
Eine Trennung ist prägend, weil diese Zerrissenheit in einem bleibt. Ich bin ohnehin ein zerrissener Charakter, auch durch meine einseitige Lähmung. Eine Körperhälfte ist schwach, die andere stark. Dieser Hang zur Zerrissenheit wurde durch die Trennung weitergeführt. Bevor ich in die Schule kam, war ich ein glückliches Kind, weil ich träumen konnte. Wenn ich an meine Kindheit denke, fallen mir die Hände meines Großvaters ein. Sie waren groß und vernarbt. Man hat ihnen angesehen, was sie im Leben schon alles festgehalten haben. Es war toll für mich, wenn er mit seinen großen Händen meine schwache Hand gehalten hat.
In deinem Roman „Mitternachtsweg“ spielt die Romantik eine große Rolle, was fasziniert dich so daran?
Die Romantik ist ein Sehnen in die Weite hinaus. Dort draußen wird man empfangen und findet ein Zuhause. Das ist einerseits sehr schön, weil die Sehnsucht die Heimat ist. Andererseits kann man in dieser Weite verloren gehen, weil man keinen Ort hat, an dem man im Kleinen Zuhause ist. Ich fühle mich dieser Epoche von allen Epochen am nächsten. Obwohl das vermessen ist, man kann sich keiner Epoche nahe fühlen, in der man nicht gewesen ist. Man muss immer in der Zeit ankommen, in der man Zuhause ist. Meine Freunde machen sich deshalb über mich lustig und sagen: „Okay Benni, das ist schön und gut, aber jetzt trinken wir ein Bier.“
Der Roman spielt auf unterschiedlichen Zeit- und Erzählebenen. Wie hat sich der Schreibprozess dazu gestaltet?
Wenn alles in mir Gestalt annimmt, habe ich ein riesiges Plakat mit Post-it’s und Strichen an der Wand. Dann beginnt das tatsächliche Schreiben. Ein Roman fängt aber schon viel früher an. „Mitternachtsweg“ begann, als ich auf Sylt den Friedhof der Heimatlosen betreten habe. Dort wurden die Menschen beerdigt, die vom Meer angespült worden sind. Dieser Ort hat mich berührt. Nach und nach entstand so die Geschichte. Dann habe ich Stilmittel der Romantik hinzugefügt, beispielsweise die Manuskriptform oder Aufzeichnungen, die jemand anderes findet.
Wie schaffst du es, die unterschiedlichen Charaktere so authentisch zu zeichnen?
Das ist Gefühlssache. Ich komme aus einer Journalistenfamilie und konnte mir daher ein gutes Bild der Figur des Peter Maydell machen. In Buchholz in der Nordheide gibt es zudem einen tapferen jungen Mann, der in einem Spielwarengeschäft arbeitet und den ich kennengelernt habe. Er hat mir viel erzählt über seine Arbeit im Spielzeuggeschäft und über sein Leben. Das ist ein dunkler Charakter, der mich beeindruckt hat. Er ist das Vorbild für Johannes Kielland gewesen. Die Gefühlswelt ist immer meine. Ich werde manchmal gefragt, wo ich in meinen Büchern zu finden bin. Ich bin immer da, wo Empfindungen beschrieben werden.
„Mitternachtsweg“ ist 2014 bei Hoffmann und Campe erschienen.
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